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"ich kann doch nicht zur tankstelle rennen"
 

Ergebnisse des Soziologie-Lehrforschungsprojekts „Aufgeklärt, doch ahnungslos“
„Ich kann doch nicht zur Tankstelle rennen“

Coole Sprüche täuschen über faktische Unsicherheiten oft hinweg: was Jugendliche im Alter von 14 bis 15 Jahren über Sexualität, Verhütung und Ansteckungsgefahren zu wissen glauben, hält der Überprüfung nicht unbedingt stand, und diejenigen, die am wenigsten informiert sind, überschätzen sich am stärksten. Das kam bei einer Befragung von Achtklässlern an Nürnberger Schulen zutage, die Teil eines Lehrforschungsprojekts von Soziologiestudentinnen und -studenten der Universität Erlangen-Nürnberg war. Mittels unterschiedlicher Erhebungsmethoden fanden die Studierenden unter anderem heraus, dass Väter als Partner für Aufklärungsgespräche praktisch ausfallen und dass die Beschränkung des Sexualkundeunterrichts auf rein biologische Tatsachen als unbefriedigend empfunden wird.

Angeleitet von Dr. Reinhard Wittenberg vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Universität in Nürnberg machten sich rund 120 Studierende zu Beginn des Jahres 2004 daran, das Wissen oder Unwissen von Jugendlichen und Erwachsenen über Sexualität, Empfängnis und Verhütung zu testen. In 61 achten Klassen an Gesamt-, Haupt- und Realschulen, Gymnasien und Privatschulen in Nürnberg wurden 1.397 schriftliche Befragungen durchgeführt. 482 Mädchen und 362 Jungen beantworteten einen Online-Fragebogen, auf den alle 16- und 17jährigen im Stadtgebiet von Nürnberg per Post hingewiesen wurden. Insgesamt 1.637 Nürnbergerinnen und Nürnberger verschiedener Altersstufen gaben am Telefon Auskunft über ihre Kenntnisse, Erfahrungen und Ansichten. Zum Datenvergleich stand eine bundesweite Telefonbefragung des Forsa-Instituts unter 14- bis 19jährigen zur Verfügung. Gruppendiskussionen in Jugendzentren, Beobachtungen im Sexualkundeunterricht und Inhaltsanalysen von Lehrbüchern, Aufklärungsschriften und „Bravo“-Leserbriefen halfen, Tendenzen herauszuarbeiten und Interpretationsansätze zu finden.

Über Verhütung wussten Mädchen in den 8. Klassen deutlich besser Bescheid als ihre männlichen Altersgenossen. Der Schultyp spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, ebenso wie das soziokulturelle Umfeld: Gymnasiasten und Realschüler kannten sich bei weitem besser aus als Hauptschüler, Jugendliche ausländischer Herkunft rangierten eindeutig hinter den deutschen Klassenkameraden. In der Selbsteinschätzung wird dieser Sachverhalt völlig umgekehrt: als bestens aufgeklärt bezeichneten sich männliche Hauptschüler aus Ausländerfamilien.

Bei den Gefahren der Ansteckung durch Sexualkontakte lässt die Selbstsicherheit nach. Nur 48 Prozent der Hauptschüler und -schülerinnen hielten sich für gut informiert über das AIDS-Risiko. Äußerungen in den Gruppendiskussionen sprechen dafür, dass Jugendliche eher lax mit Schutzmaßnahmen umgehen: ist kein Kondom zur Hand, verzichten sie darauf. „Ich kann doch nicht unterbrechen und zur Tankstelle rennen“, lautet ein typischer Kommentar. Mädchen, die auf Verhütung bestehen, müssen damit rechnen, dass sie stehen gelassen werden: „Wenn die schon sagt ‘Hol Kondome’, dann geh ich zu ‘ner anderen.“ Andererseits gelten Mädchen mit häufigen wechselnden Sexualpartnern als Schlampen.

Die rechte Zeit für das „erste Mal“ setzten die meisten Teilnehmer in Gruppendiskussionen auf ein Alter von 15 oder 16 Jahren an. Tatsächlich erleben heutige Jugendliche unterschiedlichen Quellen zufolge die erste geschlechtliche Vereinigung etwa um den 15. Geburtstag. Die Telefonbefragung der heute volljährigen Nürnberger ergab dagegen für diese Erfahrung ein Durchschnittsalter von 17,5 Jahren. Der Zeitpunkt für den ersten Geschlechtsverkehr hat sich demnach deutlich verschoben. Beobachtungen, dass die Menstruation bei Mädchen ebenfalls früher beginnt, bestätigten sich in der Nürnberger Untersuchung, wenn auch in eher geringfügigem Maße. Zwischen früherer sexueller Reife und früherer sexueller Aktivität war ein Zusammenhang festzustellen.

Unter den Achtklässlern reagierten Jungen zu rund 20 Prozent und Mädchen zu etwa 30 Prozent mit Ratlosigkeit auf die Vorstellung, bereits jetzt Vater bzw. Mutter zu werden. Noch ähnlicher war der Anteil von Mädchen (30 Prozent) und Jungen (33 Prozent), die für diesen Fall einen Schwangerschaftsabbruch beabsichtigten. Dennoch zeigten sich auch deutliche Unterschiede. Recht naiv gab ein Drittel der Jungen an, sich gemeinsam mit der Mutter um das Kind kümmern zu wollen; über zehn Prozent gingen davon aus, die Mutter werde ihren Nachwuchs alleine betreuen. Beides kam für die Mädchen so gut wie gar nicht in Frage. Sie urteilten realistischer: 31 Prozent wollten das Kind austragen und gemeinsam mit ihren Eltern versorgen.

Schwangerschaften wie Schwangerschaftsabbrüche sind bei Minderjährigen in Deutschland zwischen 1996 und 2002 erheblich häufiger geworden. Bei den Jüngsten erhöhte sich die Zahl der Abbrüche in diesem Zeitraum um 80 Prozent, während die Zahl der Mütter unter 18 Jahren nur um 13 Prozent stieg. Äußerungen wie „Ich denke, es ist beschämend, wenn man mit den Eltern über Sex redet“, belegen, dass Familien auf die zunehmend frühere Reife der Kinder nicht immer angemessen reagieren. In der Online-Befragung der 16- und 17jährigen rangierte die Zeitschrift „Bravo“ als Aufklärungsquelle noch knapp vor den Müttern. Die Schule nahm den ersten Rang ein, jedoch mit einem Manko: über Geschlechtsorgane und deren Funktion ist im Sexualkundeunterricht viel zu erfahren, von Liebe oder Zärtlichkeit dagegen ist kaum die Rede.

Ein Blick auf die bisherigen Auswertungsergebnisse ist im Internet unter http://www.soziologie.wiso.uni-erlangen.de/ss04/aufgeklaert/ möglich. In einigen Wochen wird die vollständige Auswertung der Studie abgeschlossen sein.

Weitere Informationen

Dr. Reinhard Wittenberg
Lehrstuhl für Soziologie
Tel.: 0911/5203 -699
reinhard.wittenberg@wiso.uni-erlangen.de

 

Mediendienst Forschung-Aktuell Nr.712 vom 03.09.2004

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