Frankreich und
Deutschland sind ein Paar, dem es im Zusammenleben weder an harmonischen
Tönen noch an Spannungen fehlt. Wenn der 22. Januar als Jahrestag
des Elysée-Vertrags, der den Grundstein zur deutsch-französischen
Freundschaft legte, feierlich begangen wird, werden lobende Worte
zur Unterstützung der deutschen Einheit durch die "Grande
Nation" nicht fehlen - trotzdem bleiben Zweifel zurück.
Hatten Frankreichs Spitzenpolitiker ein geeintes Deutschland nicht
eher als bedrohlich empfunden und die Wiedervereinigung zu bremsen
oder sogar zu blockieren versucht? Prof. Dr. Tilo Schabert, Politikwissenschaftler
an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität
Erlangen-Nürnberg, hat Belege für das Gegenteil gefunden
und in ein neues Bild der Außenpolitik unter der Regierung
von François Mitterrand eingearbeitet. In seinem jüngsten
Buch wird der ehemalige französische Staatspräsident als
aktiver Befürworter der deutschen Einheit vorgestellt, der
das Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland allerdings unlösbar
in den Prozess der Integration Europas eingebettet wissen wollte.
"La question
allemande est une question européenne" steht, von Mitterrands
Hand hingekritzelt, auf der Rückseite einer Speisekarte. Auf
der Vorderseite ist die Abfolge der Gerichte bei dem Diner verzeichnet,
das die zwölf Regierungschefs der Europäischen Union am
18. November 1989, neun Tage nach dem Fall der Berliner Mauer, im
Elysée-Palast einnahmen. Für die anschließende
Pressekonferenz zum Spitzentreffen hatte sich der Präsident
in Stichworten die wichtigsten Punkte notiert, die er ansprechen
wollte. Die Verbindung der deutschen mit der europäischen Frage,
die parallele Entwicklung in Deutschland und im umfassenderen Staatenverbund
war für ihn zentral, während die USA bei weitem mehr Wert
auf den Verbleib der Bundesrepublik in der NATO legten. Ein neutrales
"Großdeutschland", in der Mitte von Europa gelegen,
aber nicht fest in dessen Staatengemeinschaft verankert und womöglich
mit strittigen Grenzverläufen im Osten, verband François
Mitterrand mit einer Schreckensvision von künftigen Kriegen.
Dass allen Deutschen,
wie anderen Völkern, ein Recht auf Freiheit und auf die freie
Entscheidung für das Zusammenleben in einer Nation zukam, stellte
der Staatspräsident dagegen nicht in Frage. Dass es für
die Deutschen in absehbarer Zeit eine Chance zur Wiedervereinigung
geben werde, konnte er sich Anfang der 80er Jahre sogar weit besser
vorstellen als die deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut
Kohl, die beide im Gespräch mit ihm zu erkennen gaben, dass
sie kein Ende der Teilung erwarteten, bevor mehrere Generationen
verstrichen waren. Unvorstellbar für Mitterrand war, dass die
Einheit Deutschlands für deutsche Politiker nicht dieselbe
Priorität hatte, die er einer solchen Problematik an ihrer
Stelle eingeräumt hätte.
Für seine
Studie hatte Tilo Schabert im Elysée-Palast Zugang zu unveröffentlichten
Quellen erhalten, so dass er Protokolle, interne Berichte und Analysen
zur "deutschen Frage" samt der schriftlichen Kommentare
von Präsident Mitterrand erstmals auswerten konnte. Ergänzend
hat er wichtige Akteure persönlich befragt, darunter Mitterrand
selbst und dessen diplomatischen Berater Hubert Védrine,
den im Bundeskanzleramt für Außen- und Deutschlandpolitik
zuständigen Kohl-Vertrauten Horst Teltschik und dessen Nachfolger
Joachim Bitterlich. Der Arbeitsablauf in der "Werkstatt der
Weltpolitik" wird damit einsehbar, speziell in den entscheidenden
Jahren 1989 und 1990. Ergebnisse anderer Forscher, die diesen Zeitraum
aus unterschiedlichen Blickwinkeln behandeln, werden einbezogen;
grundlegende Betrachtungen über die deutsch-französischen
Beziehungen in der Ära Mitterrand kommen hinzu.
Prof. Schaberts
Buch mit dem Titel "Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich
und die deutsche Einheit" ist 2002 im Verlag Klett-Cotta erschienen.
Am 19. März 2003 wird Tilo Schabert am Goethe-Institut in Paris
in einer öffentlichen Podiumsdiskussion zu seinem Werk Stellung
nehmen, an der u.a. Hubert Védrine, Joachim Bitterlich und
Daniel Vernet, Chef des außenpolitischen Ressorts bei der
Zeitung Le Monde, teilnehmen werden.
Weitere Informationen
Prof. Dr. Tilo
Schabert
Politische Wissenschaft
Erziehungswissenschaftliche Fakultät
Tel.: 0911/53 02 -539
toschabe@ewf.uni-erlangen.de
Mediendienst FORSCHUNG Nr. 650 vom 20.1.2003