Interlit - Die Foren



Forum 1: Jahrtausendwende?
Forum 2: Zeit und Mythos
Forum 3: Zeitgewissen
Forum 4: Geschichten über Geschichte
Forum 5: Aufbruch in die Zeiten
Forum 6: Die andere Zeit der Poesie



Freitag, 3. Oktober, Redoutensaal, 10 Uhr

Forum 1: Jahrtausendwende?
Teilnehmer:
Ana Teresa Torres (Venezuela)
Syl Cheney-Coker (Sierra Leone)
Essma'il Cho'i (Iran)
Moderation: Barbara Wahlster (Berlin)

 

Andere Menschen, andere Kulturen - andere Zeiten

"Nicht mit einem Paukenschlag", so Moderatorin Barbara Wahlster, sondern "ganz bewußt leise, mit einem Fragezeichen" sollte INTERLIT 4 mit dem 1. Forum beginnen: "Jahrtausendwende?". Was bedeutet der bevorstehende Einschnitt im abendländischen Kalender für die Schriftsteller aus den Ländern des Südens?

"Zu mächtig", sagte Ana Teresa Torres, sei auch diese Fragestellung. Wie Syl Cheney-Coker und Essma'il Cho'i grenzte sie in ihren Texten und Diskussionsbeiträgen das Thema ein. Was sich mit der Idee von großen Zeitaltern und fundamentalem Wandel verbindet, variiert: je nach Historie, Landeskultur und persönlichem Schicksal.

Syl Cheney-Coker ist seit dem letzten Putschversuch in Sierra Leone im Exil in New York. "Das ist die Neue Zeit für mich", sagt er, eine bittere Zäsur mit noch nicht abschätzbarer Dauer und unabsehbaren Folgen: "Ich war 14 Jahre im Ausland, jetzt wollte ich endlich einmal zu Hause sein. Nach 400 Jahren Tyrannei waren die demokratischen Hoffnungen groß und wurden wieder enttäuscht". Er las aus seinem zweiten, noch unveröffenlichten Roman ("In the Silence of Memory"). Der Held versucht den Ausbruch aus bürgerlichen Werten, denen er seiner Frau zuliebe immer gefolgt war. Es bleibt ihm kaum mehr Zeit für die "Neubewertung seines Lebens." Die wichtigsten Dinge sind zugleich die einfachsten: Liebe, Aufmerksamkeit, Gegenwärtigkeit - darauf hatte er viel zu lange vergessen.

Den Empfindungen eines Exilierten spürte Essma'il Cho'i in seinem Gedicht "Rückkehr nach Borgio Verezzi" nach. In dem italienischen Urlaubsort mischen sich viele widersprüchliche Erinnerungen: an den Iran, an die islamische Revolution, an das jahrzehntelange Leben im Londoner Exil - und an eine große Liebe, die hier vor 20 Jahren begonnen hatte. Das Exil, sagt Cho'i, ist ein Gefängnis; nur die Lyrik läßt ihn überleben. Er unterscheidet dann zwischen einer physikalischen, einer psychologischen und einer historischen Zeit. Der monotone Gleichlauf der Uhren ist pure Physik: Sie macht alle Momente gleich. Dagegen erleben wir die Zeit immer wieder sehr verschieden, je nach Befinden und Tätigkeiten. Zur Historie formieren sich die großen Entwicklungen in Politik, Wirtschaft, Kultur. Dabei macht die Historie durchaus Fortschritte, meint Cho'i. Meßlatte für die Entwicklung: Prozesse der Humanisierung, ablesbar z.B. bei Menschenrechten, in der Medizintechnik oder einem Mehr an Mobilität. Dieser Prozeß laufe stetig weiter, ohne je abgeschlossen zu sein. Charakteristisch im globalen Vergleich sei heute die Ungleichzeitigkeit der Gesellschaften: "Für manche Länder ist heute Mittelalter." Cheney-Coker dagegen sieht im westlichen Modell nur einen "Fortschritt der Maschinen". Und die Uhren im festen Griff der Politiker: "Sie müssen sich rechtzeitig ihre Denkmäler setzen." Ein besseres Leben dagegen könne nur an mehr Glück und Zufriedenheit gemessen werden.

Ana Teresa Torres las aus einem "Drehbuch über den Wandel der Zeiten in Caracas". Veränderungen in rasendem Tempo kennzeichnen den Wandel in Venezuela kurz vor der Jahrtausendwende. Was aus ihrer Sicht fehlt, sind Kontinuität und damit Zeit für ein Reflektieren der Ziele. Zwischen der Erinnerung an ein idealisiertes Früher und konsumorientierten Wunschvorstellungen für die Zukunft kommt eines fast abhanden: die Gegenwart. So lebt man in Venezuela mehr in Träumen als in greifbaren Realitäten: Ein ganzes Land im Exil der Zeit. Zentral für das Lebensgefühl im Land, so Teresa Torres: "Das Gefühl, noch nicht ganz angekommen zu sein."



Freitag, 3. Oktober, Redoutensaal, 15 Uhr

Forum 2: Zeit und Mythos

Teilnehmer:
Ibrahim al-Koni (Libyen)
Githa Hariharan (Indien)
Emile Ollivier (Haiti)
Moderation: Al Imfeld (Zürich)

 

"Das nicht in einen Mythos Verwandelte fällt dem Vergessen anheim."

Das Nachdenken über die Beziehung von Zeit und Mythos führt tief ins Philosophische - beim INTERLIT-Forum 2 war viel von Nietzsche, Heidegger und Aristoteles die Rede, von Heraklit, Goethe, Thomas Mann und vielen andern großen Denkern. Man solle sich aber ruhig einmal zum Versuch einer Theoriebildung aufraffen, forcierte Al Imfeld die Auseinandersetzung. Allzu vieles sei durch die kommerziellen Massenmedien schon vulgarisiert worden.

Im Grundsatz konnten sich Ibrahim al-Koni, Githa Hariharan und Emile Ollivier auf einen Nenner verständigen: Mythen sind der Stoff, aus dem auch heute viele Träume sind. Und, es resultieren starke Antriebe daraus. Zur Klärung des Verständnisses schlug Mohammed Barrada aus Marokko vor: Mythen seien Geschichten, deren Ursprung lange zurück liegt, deren Autoren deshalb unbekannt sind; dabei stellten sie gleichsam den verbliebenen Bodensatz des Wissens und der Orientierungen einer ganzen Kulturgemeinschaft dar.

Ibrahim al-Koni ging das Thema aus religionsphilosophischer Sicht an: "In der Sehnsucht nach dem Mythos drückt sich die Sehnsucht nach dem Göttlichen aus." Er sieht es deshalb ausdrücklich als Aufgabe des Schriftstellers an, neue Mythen zu schaffen: "Das Ewige lebt nur im Mythos - was nicht in Mythen verwandelt wird, fällt der Vergänglichkeit und letztlich dem Vergessen anheim." al-Koni las hierzu eine Parabel zum Wesen der Zeit. Es sind die unscheinbaren Elemente der Natur, das Wasser und das Feuer, die Sonne und der Wind, die alles andere überdauern.

Emile Ollivier mußte Haiti schon vor langer Zeit verlassen und lebt seit über 30 Jahren im Exil in Montreal. Er sei, sagt er, aus einem Universum aus Magie, Zauber- und Wunderglauben gekommen und hineingeraten in die durch und durch nüchterne Welt der kanadischen Metropole. In seinem Roman "Passages" (Übergang) sucht er nach Selbstvergewisserung: "Was ist mir in diesem Leben passiert?" Der verlesene Auszug schildert Visionen und Erfahrungen des leidgeprüften Haitianers Amédée: Die Götter Afrikas sind darin genauso lebendig wie die himmlischen Mächte der Bibel. Ollivier meint, daß die Mythen seiner karibischen Heimat ebenso weiterwirken wie die der griechischen Antike: "Mythen akklimatisieren sich lediglich im Lauf der Zeiten." Dabei beobachtet er heute zugleich eine Uniformierung der Weltkulturen - "Bin ich noch in Montreal oder schon in Nürnberg?" - und eine oft kuriose Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, wenn z.B. eine Frau auf Haiti mit ihrem Muli bedenkenlos die Landebahn einer Boeing 747 kreuzt.

Folklore, Legenden, Mythen, sagte Githa Hariharan, benutze sie in ihren Werken gern. Der Vorteil: Die Erzählmuster seien weithin bekannt, die tradierten Bilder und Werturteile bestimmten in Indien weiterhin wie selbstverständlich den Alltag breiter Schichten. Und: "Im indischen Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne kann man diese überlieferten Vorstellungen sehr gut auch für subversive Zwecke nutzen." So seien in den Sanskrit-Epen Mahabharata und Ramayana zwar rigide Normen- und Regelsysteme fixiert - doch sie bieten auch eine Menge Spielraum für liberale Auslegungen, z.B. der Sexualmoral. Die Hindu-Fundamentalisten, berichtete Hariharan, hätten die mythischen Helden zum politischen Programm erhoben. Rama aber habe viele Gesichter: "Mit neuen Interpretationen der alten Geschichten lassen sich reaktionäre Tendenzen unterlaufen."



Samstag, 4. Oktober, Redoutensaal, 10 Uhr

Forum 3: Zeitgewissen

Teilnehmer:
Zaynab Alkali (Nigeria)
Jean Arasanayagam (Sri Lanka)
Lindsey Collen (Mauritius)
Mario Delgado Aparaín (Uruguay)
Moderation: Ray-Güde Mertin (Bad Homburg)

 

Ironie - ein Mittel, den Stacheldraht zu überwinden

"Zeit wird subjektiv sehr verschieden erlebt - das Gewissen aber darf nicht relativ sein." Diese Unterscheidung stellte Moderatorin Ray-Güde Mertin an den Anfang von Forum 3, "Zeitgewissen". Für Schriftsteller sei dabei klar, daß es ein unschuldiges Wort nicht gibt: Literatur heißt immer auch Stellungnahme. Zaynab Alkali, Jean Arasanayagam, Lindsey Collen und Mario Delgado Aparaín - sie alle haben in ihren Ländern eindeutig Stellung bezogen, haben aufmerksam gemacht und aufgerüttelt. Alle sahen/sehen sie sich konfrontiert mit sozialer und staatlicher Repression.

Mario Delgado Aparaín las aus seinem Roman "Die Ballade von Johnny Sosa". Er habe ihn in den 80ern geschrieben, als die Militärdiktatur in Uruguay schon fast am Ende war: "Doch damals konnte niemand wissen, wie lange die Gewaltherrschaft noch dauern würde. Und selbst heute, nach mehr als zehn Jahren, ist diese Zeit noch nicht verschmerzt." Delgado Aparaíns Held Johnny Sosa ist den Cowboys der Western nachempfunden: ein einsamer Mann in einem Provinzdorf, der nach dem Putsch (1976) zuerst in die Fänge scheinheiliger Moralisten und Opportunisten gerät, bis er in einem Akt persönlicher Rebellion doch noch seine Würde rettet. Besonders im südlichen Südamerika, sagt Delgado Aparaín, sei unter den diversen Regimen eine Art Trauerliteratur entstanden: schmerzerfüllt, weinerlich fast, z.T. auch pamphletistisch: "Gegen diese Art von Sprache wurde ich allergisch". Seine eigene Gegenwehr sollte "wenigstens ein müdes Lächeln, ein müdes Gefühl des Sieges retten." Seine Mittel sind Ironie, Satire: "Damit läßt sich der Stacheldraht überwinden, ohne gleich gesehen zu werden." Die wichtigste Leistung der Literatur sei es, die Erinnerung festzuhalten. Nur so werde ein wahrhaftiges Gedächtnis überhaupt erst geschaffen.

Zaynab Alkalis Kurzgeschichte "Vogelfrei" führte auf den Flughafen von Lagos: Schlaglichter auf die alltägliche Korruption beim Kampf um persönliche Vorteile, Szenen vom stundenlangen Warten und vom ganz normalen Durcheinander. In Nigeria gilt Alkali als radikale Vertreterin der Emanzipation. Doch die Frauenfrage, sagt sie, stellt sich im islamischen Norden Nigerias, wo sie lebt, schreibt und gelesen wird, anders als im christlichen Süden des Landes: "Der soziale Kontext ist entscheidend." Ihren ersten Roman "The Stillborn" (1984) habe sie geschrieben, ohne groß über die Folgen nachzudenken: "Naiv, ohne jeden Blick aufs Publikum". Die Geschichte des Mädches Li, das allmählich lernt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, habe ihr eine Menge Schwierigkeiten eingebracht: in ihrer Ehe, in der Familie und im gesellschaftlichen Leben. Zunächst sei sie erschrocken, habe versucht, moderater zu schreiben. Heute wisse sie, daß sie nicht anders könne, als ihrer eigenen Sicht und Wahrheit zu folgen: "Die Probleme sind geblieben. Doch ich fühle mich jetzt viel stärker."

Jean Arasanayagams Probe aus der Kurzgeschichte "Meditation über die Angst" erzählt von einer Nacht des Schreckens im zentralen Hochland Sri Lankas. Der "Black July" 1983 hat begonnen, die ethnischen Konflikte zwischen Singhalesen und Tamilen eskalieren in blutigen Pogromen. Arasanayagam verarbeitet in ihrem Text eigene Erfahrungen. Mit ihrer Familie mußte sie lange in Flüchtlingslagern zubringen: "Wir alle machen unterschiedliche Reisen um zu überleben." Ihre eigene Herkunft - als Dutch Burgher hat sie auch holländische Vorfahren - bringe ihr in Sri Lanka Probleme, ihre Heirat mit einem Tamilen habe diese noch verschärft. Doch sie halte es für ihre Pflicht, gerade darüber zu schreiben. So sei ihr später hoch dekorierter Gedichtband "Apocalypse 83" noch im Flüchtlingslager entstanden, notiert in ein Schulheft: "Mein Bruder hat mich angefleht, diese Gedichte nicht zu veröffentlichen. Sie würden mir bestimmt den Paß wegnehmen." Gewalt, Vertreibung, Enteignung schildere sie in Theaterstücken, Erzählungen: "Nur wenn ich darüber schreibe, kann ich existieren - auch wenn mich manche für eine Terroristin halten."

Lindsey Collen las einen Auszug ihres Romans "The Rape of Sita". Er erzählt die Geschichte einer Vergewaltigung und schildert dabei, wie sich die verdrängte Gewalterfahrung allmählich Bahn bricht. In Mauritius, wo die gebürtige Südafrikanerin Collen seit über 20 Jahren lebt, rühre dies an viele Tabus. Literatur sei dort geprägt von blumigen Sprachklischees des 19. Jahrhunderts. Eher instinktiv, sagt Collen, habe sie in ihrem ersten Roman "There is a Tide" noch ein kleines Versteckspiel mit dem Realitätsbezug getrieben. "The Rape of Sita" spreche die Dinge offen an - die Reaktion folgte prompt. Politische Vertreter der Hindus im Lande hätten ihr Blasphemie vorgeworfen, noch heute sei die Zensur offiziell nicht aufgehoben. Im Zuge der Globalisierung sieht Lindsey Collen heute "eine massive Kampagne der wirtschaftlichen Gleichschaltung": "Überall werden lange gewachsene Sozialsysteme demontiert - und jeder Widerspruch wird ausgeblendet."



Samstag, 4. Oktober, Redoutensaal, 15 Uhr

Forum 4: Geschichten über Geschichte
Teilnehmer:
David Dabydeen (Guyana)
Magali García Ramis (Puerto Rico)
Shirley Lim (Malaysia)
Sami Michael (Israel)
Moderation: Wolfgang Binder (Erlangen)

 

"Glückliche Länder haben keine Geschichte."

Geschichten erzählen sie alle - über das aber, was Geschichte ist, was sie ausmacht und was sie bewirkt, darüber hatten die Teilnehmer bei Forum 4 durchaus unterschiedliche Ansichten. Die Texte und Statements von David Dabydeen, Magali García Ramis, Shirley Lim und Sami Michael resümierte Moderator Wolfgang Binder unter Anerkennung der Vielfalt: "Ein ganzer Fächer von Geschichten und unterschiedlichen Auffassungen von Geschichte."

Das "Heraufholen von Vergangenem" (Binder) begann Shirley Lim mit einer Globaldiagnose der Jetzt-Zeit: Bis zum Jahr 2000 werden die Frauen die Vorherrschaft der Männer endgültig gebrochen und sich als gleichwertige Kräfte etabliert haben; zudem läuft das europäische Jahrhundert mit seiner nationalistischen und militaristischen Potenz aus - Asien und der gesamte pazifische Raum sind dabei, ein Gegengewicht zu bilden und die Machtverhältnisse neu zu definieren. Lim: "Ich bin Feministin. Als chinesische Malaysierin bin ich Teil des Umbruchs". Ihr Gedicht "Starlight Haven" reflektiere so eine verflossene Epoche: Die Susi Wong der Verse verkörpere eine ehedem "typisch asiatisch-feminine" Unterwürfigkeit, die heute selbst in den Matrosen-Kneipen Singapurs kaum mehr zu finden sei. Vom weiblichen Behauptungswillen erzählte auch Lims Kurzgeschichte "Hunger".

Sami Michaels Lebensweg lese sich, so Wolfgang Binder, wie ein Politthriller. Als Aktivist der Linken im Irak mußte er in jungen Jahren in den Iran fliehen und von dort nach Israel. Mit seinen Romanen, Jugendbüchern und Übersetzungen aus dem Arabischen ist er heute ein "großer Vermittler im explosiven Kontext des Nahen und Mittleren Ostens."

Michael trug einige kurze Texte vor, eigens für INTERLIT und die Fragen nach Zeit und Geschichte verfaßt. Sie pointierten u.a. ein völlig anderes Zeitgefühl: "Die Sanduhr ist vermutlich im Mittelmeerraum erfunden worden", Zeit und Sand gebe es hier mehr als genug. Ein anderer Aspekt, bezeichnend für die Gründungsjahre des israelischen Staates: "Die niedergewalzte Zeit". Jüdische Einwanderer, in der Mehrzahl geprägt vom Osten Europas, suchten mit Bulldozern die als fremd empfundene Kultur zu eliminieren - selbst Granatäpfelbäume wirkten da bedrohlich. Was in Israel auch heute viel zu wenig beachtet wird: Gerade in der Diaspora hätten Juden Großartiges geleistet, "von Moses bis Kafka". Als Jude, der aus dem Irak kam, habe er selbst lange die Diskriminierung zu spüren bekommen: "Ich sprach die Sprache des arabischen Feindes". Michael richtete Appelle der Gelassenheit an beide Seiten: "Keine Stadt ist so heilig, daß dafür das Blut von Menschen fließen darf." Jeder brauche den Bezug zu seiner Herkunft, zu dem Vergangenen, das ihn geformt hat - "Geschichte" aber sei meist eine ideologische "Verzerrung der Vergangenheit". Weniger Geschichts-Besessenheit würde dem Nahen Osten gut tun: "Glückliche Länder haben keine Geschichte."

Anders sah dies Magali García Ramis: Für Puerto Rico und für sie selbst sei es wichtig, "historischen Boden unter die Füße zu bekommen." Puerto Rico sei immer nur als Anhängsel der USA belächelt worden: "In der Schule lernten wir viel über George Washington, aber nichts über unsere eigenen Leute." Eine nationale Zukunft aber brauche das Wissen über die eigene Herkunft. Wie viele, sagt García Ramis, habe auch sie erst über Umwege, beim Studium in New York, die spanische Sprache und die Kultur ihres Landes entdeckt. Dieser Prozeß ist ein wichtiges Thema ihres Roman-Bestsellers "Onkel Sergio", aus dem García Ramis Auszüge vortrug. Die junge Heldin Lidia wird in ihrem bürgerlichen Elternhaus zunächst in engstirnigen Schablonen von Gut (USA, Europa, der Papst usw.) und Böse (F. Castro, Sex etc.) trainiert, bis sie durch Onkel Sergio, einen Außenseiter in Familie und Gesellschaft, Anstöße für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit erhält. Geschichte, meinte García Ramis, sei doch nichts anderes, als die Summe von mehr oder weniger gut erzählten Geschichten. Hier sei eben größtmögliche Wahrhaftigkeit gefordert - und es dürfe nichts ausgeblendet werden.

David Dabydeen setzte provokant dagegen: "Komisch, diese Obsession von der Geschichte." Guyana sei reich an Natur und arm an Historie. Hier habe man kaum Daten über die eigene Herkunft, die Geschichte des Landes manifestiere sich auch nicht in Denkmälern oder Gebäuden: "Ich empfinde das als befreiend. Man kann sich selbst jeden Tag neu erfinden." Er selbst wisse nur, daß seine Vorfahren irgendwann im 19. Jahrhundert aus Westindien aufgebrochen waren, verpflichtet für die Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen in Guyana. Weitere Recherchen in Bombay: zwecklos. Anders als die Menschen im geschichtsträchtigen Europa habe er keinen Grund für Gefühle einer nationalen Schuld. Überhaupt sei das Lebensgefühl in seinem "obskuren Land" wesentlich direkter: gerichtet auf das Hier und Jetzt. Die Gegensätze beleuchtet Dabydeens erster Roman "Die Zukünftigen" im Perspektivenwechsel zwischen London und einem Dorf in Guyana. In den verlesenen Passagen kam die Kraft der kreolischen Landessprache besonders zur Geltung - auf die Zentralfigur des Buches wirkt sie nachhaltig faszinierend. Daß Dabydeen bei aller Nonchalance ein äußerst fundiertes Wissen über die Geschichte des karibischen Raumes hat, dies zeigte nicht nur der Vortrag seiner Gedichte.



Sonntag, 5. Oktober, Redoutensaal, 10 Uhr

Forum 5: Aufbruch in die Zeiten
Teilnehmer:
Raschid al-Daïf (Libanon)
Mohammed Barrada (Marokko)
Rosa Regás (Spanien)
Moderation: Hartmut Fähndrich (Bern)

 

Mittelmeer - Schmelztiegel der Kulturen und Zeitalter

"Wie wird Zeit in den Ländern rund ums Mittelmeer erfahren?" Diese Frage stellte Moderator Hartmut Fähndrich in den Mittelpunkt der Lesungen und Gespräche bei Forum 5, "Aufbruch in die Zeiten". Seit 4000 Jahren, so Fähndrich, ist der Mittelmeerraum Schmelztiegel vieler Kulturen und Zeitalter: Hier liegt, innerhalb eines relativ kleinen Gebiets, die Geburtsstätte der großen monotheistischen Weltreligionen und aus ihnen heraus entwickelten sich - neben einer Reihe anderer Chronologien - die jüdische, die christliche und die islamische Zeitrechnung. Mit wechselndem Fokus auf den Libanon, auf Marokko und Spanien stellten Raschid al-Daïf, Mohammed Barrada und Rosa Regás ihre Beobachtungen und Reflexionen vor - zusammen mit ihrem persönlichen Zeit-Erleben.

Schreiben, sagt Mohammed Barrada, ist für ihn die Neuentdeckung des Gedächtnisses. Nur mit literarischen Mitteln habe er seit den 70ern ausdrücken können, wie er selbst die Entwicklungen im postkolonialen Marokko erlebt (1956 endete das französische Protektorat). Seit der Unabhängigkeit seien viele verläßliche Bindungen und Orientierungen zerbrochen. Die Modernisierung habe "die Beziehungen der Menschen zerrüttet und besonders die Jugend beunruhigt." Zentrale Themen seiner beiden Romane: die Veränderungen im sozialen Raum und in der Intimsphäre; und besonders auch der weiterwirkende politische Einfluß Frankreichs. Dazu las Barrada eine kleine Groteske, "Die Geschichte vom abgeschlagenen Kopf." Erst die gewaltsame Trennung vom Leiblichen, allzu Irdischen befähigt diesen Kopf, die verworrenen Verhältnisse neu zu ordnen: "Wir brauchen den Abstand, um die Sinne zu schärfen." Solche Hellsichtigkeit führt zu subversiven Einsichten. Und wer sie verbreitet, lebt gefährlich - den Kopf kostet es oft genug die Zunge. Aber das, so Barrada ironisch, sei ja eine ganz gewöhnliche Geschichte.

Mit Blick auf die Gesamtentwicklung sagte Barrada: "Die politische Rede ist bankrott. Hoffnung für eine Verständigung, die über Aspekte der Ökonomie hinausgeht, ist nur von Literatur und Kunst zu erwarten."

Raschid al-Daïf sprach gleich zu Anfang sehr offen von einem persönlichen Dilemma: Der zum Vortrag bestimmte Auszug aus seinem Roman "Lieber Herr Kawabâta" kritisiere die Verhältnisse im Libanon scharf - in verkürzter Wahrnehmung könnte dies durchaus westliche Vorteile bestätigen. Bei INTERLIT aber vertraue er auf die Bereitschaft zur Differenzierung. al-Daïfs Erzähler hat einen besondere Fähigkeit: "die Kraft der Erinnerung". Er kann "Augenblick für Augenblick zurückholen, als stünde ich vor einem Buch, in dem ich nach Belieben blättere." Im eigenen Land sind ihm dafür die Ansprechpartner verloren gegangen: Jede religiöse Gruppe erwarte für die Zukunft nur die Wiederkehr einer willkürlich idealisierten Vergangenheit. Und im Westen sei, historisch bedingt, das allerwenigste Verständnis zu erwarten. Als Instanz für den nach Wissen und Aufklärung verlangenden Erzähler bleibt so nur eine Person außerhalb von Raum und Zeit: der 1972 durch eigene Hand gestorbene japanische Literatur-Nobelpreisträger Kawabâta. Im Libanon und speziell in Beirut, erklärte Raschid al-Daïf auf Nachfrage, seien viele Zeitalter gleichzeitig lebendig: Im selben Viertel lebten Gruppen nach frühislamischen, nach osmanischen, nach strikt schiitischen oder nach westlich-modernen Mustern. "Jahrtausende existieren im selben Moment. Die Gegenwart hat alle Zeit auf einmal." In der Vergangenheit habe es dabei auch lange Phasen friedlicher Koexistenz gegeben.

Rosa Regás sprach sich entschieden gegen alles Patriotische aus. Die Wunden des spanischen Bürgerkriegs seien bei ihr noch immer offen. Für das INTERLIT-Forum hatte sie einen eigenen Text vorbereitet: "Das Mittelmeer: Glanz und Hybris". Er huldigt der Schönheit der Natur, er würdigt die Errungenschaften vieler Epochen und Kulturen seit Ägyptern, Griechen, Römern - und er stellt die jahrtausendealte Durchmischung der Mittelmeervölker als die "wertvollste Substanz" heraus. Diese Fülle an gemeinsamer Historie sollte, so Rosa Regás, die beste Basis sein für Toleranz und Frieden. Doch die Realität sieht oft genug anders aus. Dabei hätten z.B. in Spanien zur Zeit der Mauren gerade Moslems und Juden gemeinsam die Entwicklung vorangebracht: "Tief im Inneren wissen wir doch alle, daß wir multikulturelle, multirassische Wesen sind." Und es gibt Hoffnung: In Südspanien etwa besinne man sich seit einiger Zeit mehr und mehr auf die Vielfalt der eigenen Wurzeln. Den Zeitbegriff faßte Regás nicht philosophisch, sonder lebensweltlich konkret. Als Katalanin aus Barcelona habe sie das Meer geprägt; Zeit werde deshalb an den Küsten Spaniens wie in vielen Ländern am Mittelmeer synchronisiert mit dem Wetter, mit den Rhythmen der Natur: "Am Mittelmeer lebt man draußen, Räume machen uns eher Angst."



Sonntag, 5. Oktober, Redoutensaal, 15 Uhr

Forum 6: Die andere Zeit der Poesie
Teilnehmer:
Meena Alexander (Indien)
Carlos Franz (Chile)
Ana María Shua (Argentinien)
Moderation: Dieter Riemenschneider (Frankfurt/Main)

 

"Bücher sind kleine Stücke eingefrorener Zeit."

"How long a time lies in one little word!" Als Leitmotiv für das abschließende Forum 6 wählte Moderator Dieter Riemenschneider ein Zitat von Shakespeare. Meena Alexander, Carlos Franz und Ana María Shua sprachen dabei über die Beziehung ihres eigenen literarischen Schaffens zu Aspekten des Begriffs Zeit: über die grundsätzliche Relation von Literatur und Zeit, über den Bezug zur Gegenwart - aber auch über die Notwendigkeit einer Zurückweisung von unzeitgemäßen Erwartungen an den Schriftsteller.

Meena Alexander gefiel die Vorstellung, daß wir uns in der Zeit bewegen wie Fische im Wasser. Zeit sei in diesem Bild ein Element, das uns wie selbstverständlich umgibt und leben läßt. Richtig greifbar werde es jedoch erst in der Literatur: "Als Schriftstellerin mache ich die Zeit deutlich". In Alexanders Texten - sie las Gedichte und eine Passage aus ihrem Memoirenbuch "Fault Lines" - kam zum Ausdruck, was sie selbst ihr "Migranten-Bewußtsein" nennt. Ob in Kerala im Südwesten Indiens, wo sie geboren wurde; ob am Hudson River in New York (wo sie heute lebt) oder jetzt als Gast bei INTERLIT in Erlangen - in ihrer Lyrik und lyrischen Prosa geht es stets auch um die Identifikation der wechselnden Aufenthaltsorte und um die Bestimmung der eigenen Position im jeweiligen Umfeld. Die Frage nach der eigenen Identität, sagt Meena Alexander, habe sich im Kontext ihrer Wanderschaft schon früh gestellt: Bereits als Kind habe sie abwechselnd das halbe Jahr im Sudan und in Kerala verbracht, zeitweise auch in Ägypten. Gedichte bieten ihr "Raum für den Traum": "Mir geht es dabei um meine ganz persönliche Wahrheit, nicht um etwas Universelles."

Alles ein bißchen wie bei den Vereinten Nationen hier bei INTERLIT, meinte Carlos Franz. Dolmetscher, Kopfhörer, Reden vom Podium herab - durchaus gewöhnungsbedürftig für einen Schriftsteller, der sonst einsam in seinem Zimmer arbeitet. Doch auch das "improvisierte Wort" biete Möglichkeiten für eine Verständigung.

Er selbst, sagt Carlos Franz, habe eine Art umgekehrtes Exil erlebt. Als chilenischer Diplomatensohn sei für ihn immer klar gewesen, wohin er gehört. Dabei sei er erst in der Schweiz, dann in Argentinien als Fremder behandelt worden. Und ebenso in Chile, als er schließlich im Alter von 13 Jahren dort seßhaft wurde: "Meine chilenische Identität mußte ich mir erst erobern." Franz las aus seinem Roman "El lugar donde estuvo el Paraíso" (Der Ort, an dem sich das Paradies befand). Die Geschichte spielt in Iquitos, einer Stadt, die mitten im peruanischen Regenwald liegt, im Herzen des südamerikanischen Kontinents und zugleich ganz an der Peripherie. Der Konsul eines ungenannten Landes (vieles deutet auf Chile) sucht hier in der Liebe und für sein Leben eine letzte Chance. Sein Roman, erklärt Franz, wolle und könne keine umfassende Darstellung der chilenischen Gesellschaft oder gar Südamerikas sein. Gesamtvisionen, das hätte die letzte Autorengeneration vorbildlich geleistet. Heute aber befinde sich Lateinamerika im Umbruch: Zeit der Diversifikation, alles werde zunehmend komplexer - die Verpflichtung der Schriftsteller auf große Entwürfe sei anachronistisch.

Dieser Diagnose stimmte Ana María Shua vorbehaltlos zu: Die Autoren seien nicht (mehr) in der Verantwortung für alles, was Gesellschaft und historische Entwicklung angeht. Damit könne sich nun die literarische Phantasie in Südamerika freier entfalten. Ana María Shua ist in Argentinien eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen, u.a. mit Satiren über das Verhältnis der Geschlechter in Zeiten der Emanzipation. Beim Forum trug sie eine Kurzgeschichte vor, die Satirisches mit Spurenelementen des Magischen Realismus mischt: Paris, eine Versammlung betroffener Umweltschützer und ein Indio aus dem Nordwesten Argentiniens, der erst äußerst monoton in Quechua referiert - bis er selbst dem brillant dolmetschenden Sorbonne-Professor buchstäblich über den Kopf wächst. Zum Verhältnis von Literatur und Zeit meinte María Shua, daß "Schriftsteller wie kleine Götter Formen schaffen im Chaos der Ereignisse": "Bücher sind kleine Stücke eingefrorener Zeit". So lieferten sie eine Art Nachhall der uralten menschlichen Sehnsucht nach Stabilität und Ewigkeit, wie sie einst in mythologischen Weltbildern zur Geltung gekommen sei.