- Risikobeurteilung mit Künstlichen Neuronalen Netzen
Was den Hang zum Abrutsch bringt
Der Mensch muss lernen, Siedlungen so anzulegen, dass sie von
Naturkatastrophen weitestgehend verschont bleiben. Im Bergland bedeutet das,
Bedrohungen durch Lawinen, Überflutung der Täler oder Hangrutsch realistisch
einzuschätzen. Um derartige Risiken kalkulierbar zu machen, arbeiten
Geologen und Informatiker der Universität Erlangen-Nürnberg an Verfahren,
die für einzelne Hangabschnitte die Abrutschgefahr ermitteln. Daten werden
in einer stark gefährdeten Schweizer Gebirgsregion gesammelt; bei der
Beurteilung helfen künstliche neuronale Netze.
Am 15. August 1997 wurden Berghänge in der Schweiz durch extreme
Niederschläge in Bewegung gesetzt. Erd- und Gesteinsmassen ergossen sich
über die Ortschaften Sachseln und Melchtal und richteten an Gütern und
Kulturlandschaften Schäden an, die sich auf mehr als 100 Millionen Schweizer
Franken summierten.
Im Raum Sachseln fielen in zwei Stunden pro Quadratmeter bis zu 150 Liter
Regen. Die Wassermengen rissen Erdreich und lockeres Geröll aus den
Hangoberflächen. 700 solcher Anbruchstellen entstanden innerhalb kürzester
Zeit. Aus dem Abrutschen wurde schnelles Fließen, so genannte Hangmuren: das
losgelöste Material bewegte sich wie in gewaltigen Sturzbächen. Insgesamt
60.000 m³ Geschiebe und 5.000 m³ Schwemmholz erodierten die Wasserläufe,
überhäuften die Täler mit Schlamm und Schutt und ließen die Hänge voll
Narben zurück.
Nach der Katastrophe setzten umfangreiche Untersuchungen ein. Die
Eidgenössische Forschungsanstalt startete ein groß angelegtes,
multidisziplinäres Projekt zum Einfluss der Vegetation auf oberflächennahe
Rutschungen. Zu den wichtigsten Partnern zählten das schweizerische
Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft und das Oberforstamt des Kantons
Obwalden. Forschungen am Erlanger Lehrstuhl für Angewandte Geologie waren
darauf konzentriert, im betroffenen Gebiet geologische Daten zu erheben.
Zwei Diplomanden des Lehrstuhls nahmen unter der Leitung von Prof. Dr.
Michael Moser alle Rutschungen im Melchtal anhand von dafür konzipierten
Erhebungsbögen auf und fertigten Geländeaufnahmen an. Außer geometrischen
Daten wurden mittelbare Faktoren erfasst, die das Anbruchsumfeld
charakterisieren. Dazu zählen Neigung, Form und Vegetation eines Hangs,
dessen Höhenlage und Ausrichtung, die Mächtigkeit und Art der
Lockergesteinsschicht sowie Faktoren, welche die Aufnahmefähigkeit für
Wasser bestimmen.
Die äußerst komplexen Zusammenhänge, die dem Abgleiten von Hangpartien
zugrundeliegen, sind nach der Auswertung der von allen Beteiligten erhobenen
Daten etwas besser zu durchschauen. Damit Hangmuren entstehen, brauchen
keine allzu großen Flächen ins Rutschen zu geraten. In über 80% der Fälle
betrugen die Anbruchsvolumina weniger als 200 m³. Hänge mit Neigungen
zwischen 30° und 40° waren am stärksten betroffen.
Soweit bewaldete Flächen abrutschten, lagen sie vergleichsweise an steileren
Böschungen. Die Wurzeln stabilisierten den Boden an flacheren Hängen. Hatten
Windwurf oder Borkenkäfer den Wald geschädigt, konnte er diese
Schutzfunktion jedoch sehr viel schlechter erfüllen. Wenn es in Waldarealen
zu Anbrüchen kam, waren sie generell größer als auf Flächen ohne
Baumbestand. Dass Abfolge und Lage der Gesteinsschichten die Anfälligkeit
für Rutschungen erhöhten, war nur dann festzustellen, wenn die Grenze
zwischen Locker- und Festgestein die Gleitfläche der Hangbewegung
darstellte. Wenn der feste Fels nicht zum Vorschein kam, wirkte sich die
geotechnische Ausbildung der Lockergesteine auf deren Aktivität aus.
Künstliche Neuronale Netze als Frühwarnsysteme
Wie diese Fakten und weitere Erkenntnisse zeigen, wird Hangrutsch durch ein
Zusammenspiel vieler Parameter verursacht. Um den verschiedenen Faktoren ihr
Gewicht zuzumessen und die Gefahr für jeden Hangabschnitt beurteilen zu
können, arbeiten die Erlanger Geologen mit dem Institut für Informatik der
Universität Erlangen-Nürnberg zusammen. Unter Leitung von Dr. Elmar Nöth
wird am Lehrstuhl für Mustererkennung ein Künstliches Neuronales Netz (KNN)
erzeugt, das flachgründige Hangbewegungen erkennt. Es basiert auf den bisher
erhobenen Daten und gibt die Ergebnisse zur Darstellung an ein
geographisches Informationssystem weiter. Die DFG fördert dieses Projekt im
Rahmen des interdisziplinären Programms "Hangbewegungsanalyse" seit Mai
2002.
Neuronale Netze sind lernfähig. Mit den Parameterkonstellationen aus
dokumentierten Fällen lernen sie, auf ähnliche Sachlagen zu schließen.
Dieses KNN wird mit Daten aus einem Teil des Arbeitsgebietes trainiert und
mit Daten aus einem anderen getestet. Spezielle Lernalgorithmen steuern das
Training, wobei es mehrere Lernparameter gibt, die empirisch optimiert
werden müssen. So soll ein Frühwarnsystem entstehen, das von Hangrutsch
bedrohte Flächen ausmacht und ihre Gefährdung einstuft.
Zum Vergleich sollen andere Klassifikationsverfahren wie
Klassifikationsbäume und Lineare Diskriminanzanalyse angewendet werden.
Später soll das erzeugte Neuronale Netz auch in anderen Gebieten mit
ähnlichen Ausgangssituationen getestet werden.
Weitere Informationen
Prof. Dr. Michael Moser
Dipl.-Geol. Maik Hamberger
- Lehrstuhl für Angewandte Geologie
Tel.: 09131/85-29241
mhamberg@geol.uni-erlangen.de
Dr.-Ing. Elmar Nöth
Lehrstuhl für Mustererkennung
Tel.: 09131/85-27888
noeth@informatik.uni-erlangen.de
August 1997: Von Hanganbrüchen und Hangmuren bedrohter Hof in den Sachsler
Bergen.
Mediendienst FORSCHUNG Nr. 642 vom 6.11.2002
Sachgebiet Öffentlichkeitsarbeit (Pressestelle)
pressestelle@zuv.uni-erlangen.de