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Behinderung wird nicht immer vererbt

Forscher wollen Verunsicherung von Eltern mit geistig behinderten Kindern beenden

Auf die große Verunsicherung von Eltern mit geistig behinderten Kindern wies der Leiter des Humangenetischen Instituts des Universitätsklinikums Erlangen, Prof. Dr. André Reis, jetzt hin: “Viele Eltern geistig behinderter Kinder verzichten auf weitere Kinder, weil sie Angst haben, Veränderungen ihrer Erbanlagen seien Schuld an der Behinderung ihres Kindes”, sagte Prof. Reis. Unter seiner Leitung untersucht der Forschungsverbund “German Mental Retardation Network (MRNET)” seit fast drei Jahren die genetischen Ursachen der mentalen Retardierung (MR). Die ersten Ergebnisse sollen ab heute (29.09.10) auf einer internationalen Tagung in Erlangen mit über 200 Teilnehmern vorgestellt werden. “Vielfach entsteht MR durch eine Laune der Natur – es ist häufig ein neu entstandener Einzelgendefekt, der nicht vererbt oder durch Fehlverhalten erzeugt wurde”, sagte Prof. Reis. Nun sei es die Aufgabe der Forscher, diese Krankheit noch genauer zu erkennen und eventuell sogar eines Tages durch Medikamente zu therapieren. “Ergebnisse aus Modellorganismen zeigen, dass eine medikamentöse Behandlung für zumindest einen Teil der Patienten möglich sein könnte.”

Wie groß die Verunsicherung von Eltern eines geistig behinderten Kindes ist, zeigt der Fall von Sabine und Herbert R. aus Franken. Als ihr Sohn Felix vor fünf Jahren wegen eines Durchfalls im Uni-Klinikum Erlangen behandelt wurde, stellten die Ärzte fest, dass die Entwicklung des Dreijährigen hinter anderen Kindern zurückblieb. “Da Felix mein erstes Kind war, ist mir das damals nicht gleich aufgefallen”, sagte seine Mutter. Im Laufe der Zeit wurde ihr aber klar, dass Felix eine schwere geistige Behinderung hat. Er lief unsicher und sprach nur einzelne Worte. “Die ganze Familie hat ihn natürlich trotzdem fest ins Herz geschlossen, er ist unser Sonnenschein und wir würden ihn um keinen Preis der Welt hergeben wollen”, so die Mutter. Aber aus Angst, wieder ein behindertes Kind zu bekommen, verzichteten Felix Eltern auf weiteren Nachwuchs. Fünf Jahre später entdeckten Forscher des Humangenetischen Instituts des Uni-Klinikums bei einer Untersuchung von Felix Erbanlagen einen winzigen Einzelgendefekt, der seine Behinderung ausgelöst hatte. “Uns wurde gesagt, mein Mann und ich hätten keinen Gendefekt und es sei sehr unwahrscheinlich, dass weitere Kinder an geistiger Behinderung erkranken”, sagte die Mutter. Sechs Wochen später wurde Sabine R. wieder schwanger und hat mittlerweile zwei gesunde Kinder.

Geistige Behinderung oder mentale Retardierung betrifft etwa 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung. “Die Forschung der vergangenen Jahre hat gezeigt, dass Chromosomenstörungen und Einzelgendefekte bei der Entstehung der Krankheit eine wesentliche Rolle spielen”, sagt Prof. Reis. Neue Methoden der Genomforschung ermöglichen eine systematische Aufklärung der zugrundeliegenden genetischen Veränderungen mit dem Ziel, die ursächlichen molekularen Mechanismen besser zu verstehen und künftig vielleicht sogar therapeutisch angehen zu können. “Auch wenn die Forschung noch relativ am Anfang steht, sind die betroffenen Familien dankbar, dass die Forscher sich endlich auch um ihr Schicksal kümmern”, sagte Prof. Reis. Viele Eltern hätten schon zahlreiche Arztbesuche hinter sich, ohne dass jemand sagen konnte, warum ihr Kind anders ist. Bis heute können die MRNET-Forscher bei rund der Hälfte ihrer Patienten die Ursache für MR aufklären. Dies sei nicht nur sehr wichtig für die optimale Entwicklungsmöglichkeit der Patienten, sondern auch, um vielleicht später eine mögliche medikamentöse Behandlung zu entwickeln.

Weitere Infos: www.humangenetik.uk-erlangen.de.

Weitere Informationen für die Medien:

Prof. Dr. André Reis

Tel.: 09131/85-22318

andre.reis@uk-erlangen.de

uni | mediendienst | aktuell Nr. 213/2010 vom 29.9.2010

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