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Endergebnisse des Lehrforschungsprojekts zur Sexualaufklärung

Die Ahnungslosen im Tal des Schweigens

Dauert eine Schwangerschaft zwölf Monate oder nur neun? Wer’s weiß, bekommt 1.000 Euro - jedenfalls, wenn die Antwort im rechten Moment den richtigen Fernsehsender erreicht. Noch nützlicher wäre allerdings das Wissen, dass Mädchen beim „ersten Mal“ genauso fruchtbar sind wie später, und wenn den Jungs vor Nervosität und Unsicherheit die Hände flattern, ist das nicht unbedingt ein günstiger Zeitpunkt für die erste praktische Auseinandersetzung mit einem Kondom. Die Gesamtauswertung des Lehrforschungsprojekts „Aufgeklärt, doch ahnungslos“ an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg bestätigt die vor einem Jahr vorab veröffentlichten Ergebnisse, die nur auf einem Datenausschnitt beruhten. Trotz der Abgebrühtheit, die Jugendliche oft beim Thema Sex zur Schau stellen, ist der tatsächliche Stand ihrer Kenntnisse über den Intimkontakt und dessen mögliche Folgen teilweise erschreckend gering.

In dieser Allgemeinheit von „den Jugendlichen“ zu sprechen, ist der Realität zwar nicht angemessen. Bereits innerhalb von Nürnberg gibt es, je nach Schultyp, Geschlecht und Herkunft, immense Unterschiede. Trotzdem lassen sich in der Gesamtsicht deutliche Defizite ausmachen: bei weitem nicht alle 14- bis 19jährigen wissen genug über Verhütung oder Ansteckungsgefahren. „Das ist nicht nur von wissenschaftlichem, sondern auch von gesellschafts- und kommunalpolitischen Interesse“, betont Dr. Reinhard Wittenberg, unter dessen Leitung das Projekt am Lehrstuhl für Soziologie und empirische Sozialforschung
ablief. Wer die Zahl der ungewollten Schwangerschaften und Schwangerschaftsabbrüche verringern und die Aids-Bedrohung eindämmen will, kommt an einem verstärkten Engagement in der Sexualberatung junger Leute nicht vorbei.

Außer den Eltern, von deren Bereitschaft zum mehr oder weniger offenen Gespräch über körperliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern viel davon abhängt, wie ihre Kinder mit der Thematik umgehen, sind hier die Schulen gefragt. Reine Information über die Existenz von Verhütungsmitteln reicht dabei nicht aus. Sexualaufklärung muss, wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in einer Expertise von 2004 bestätigt hat, über die Vermittlung von Fachwissen hinausgehen. Vorwiegend sollte es um Liebe und Zärtlichkeit gehen. Häufig äußern Jugendliche, dass sie mehr darüber wissen wollen, wie man dem Partner oder der Partnerin Gefühle zeigen kann, wie andere über Sexualität denken und wie Verhütung und eigene sexuelle Wünsche in der Partnerschaft angesprochen werden können.

Viele der Empfehlungen, die aus den Ergebnissen der Nürnberger Studie zu ziehen sind, wurden früher schon von anderer Seite genannt: der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz und bessere Voraussetzungen für eine sichere Lebensplanung, insbesondere von Mädchen; eine kostenlose und auf Wunsch anonyme Teenager-Ambulanz oder Peer-Gruppen, in denen Schüler von Schülern aufgeklärt werden. In manchen Fällen würde auch die stärkere Verbreitung bestimmer Informationen genügen. Wie vielen jungen Leuten unter 20 ist bekannt, dass einige Verhütungsmittel in ihrem Alter gratis zu bekommen sind, dass die ärztliche Schweigepflicht gegenüber den Eltern von Klientinnen uneingeschränkt gültig ist oder dass vor der Verschreibung der Pille ein Ultraschall-Check als Untersuchungsmethode genügt?

Als völlig ungeeignet zur Reduktion von Schwangerschaftsabbrüchen und Schwangerschaften kennzeichnet die Studie Keuschheitsgelübde jeder Art, wie sie in den USA vor allem in den letzten Jahren propagiert werden, und die Tabuisierung von Sexualität, Verhütung und „Safer Sex“ in der Hoffnung, Jugendliche auf diese Weise von frühzeitigen sexuellen Beziehungen abzuhalten. Eine solche Verschleierungstaktik bewirkt genau das Gegenteil von dem, was sie bezweckt. Sie verunsichert und macht gleichzeitig neugierig auf das noch Verborgene oder Verbotene.

Für das Lehrforschungsprojekt am Sozialwissenschaftlichen Institut der Universität in Nürnberg hatten rund 120 Studierende zu Beginn des Jahres 2004 das Wissen oder Unwissen von Jugendlichen und Erwachsenen über Sexualität, Empfängnis und Verhütung getestet. Nahezu 1.400 schriftliche Befragungen wurden in achten Klassen an Gesamt-, Haupt- und Realschulen, Gymnasien und Privatschulen durchgeführt. Über 700 Mädchen und Jungen beantworteten einen Online-Fragebogen, auf den alle 16- und 17jährigen im Stadtgebiet von Nürnberg per Post hingewiesen wurden. Insgesamt 1.637 Nürnbergerinnen und Nürnberger verschiedener Altersstufen gaben am Telefon Auskunft über ihre Kenntnisse, Erfahrungen und Ansichten. Zum Datenvergleich stand eine bundesweite Telefonbefragung des Forsa-Instituts unter 14- bis 19jährigen zur Verfügung. Gruppendiskussionen in Jugendzentren, Beobachtungen im Sexualkundeunterricht und Inhaltsanalysen von Lehrbüchern, Aufklärungsschriften und „Bravo“-Leserbriefen halfen, Tendenzen herauszuarbeiten und Interpretationsansätze zu finden.

Eine elektronische Version des Ergebnisberichts zur Studie „Aufgeklärt, doch ahnungslos“ ist unter www.soziologie.wiso.uni-erlangen.de/publikationen/berichte/b_05-01.pdf abrufbar.

Weitere Informationen:

Dr. Reinhard Wittenberg
Lehrstuhl für Soziologie und empirische Sozialforschung
Tel.: 0911/5302 -699
reinhard.wittenberg@wiso.uni-erlangen.de

 

Mediendienst Forschung-Aktuell Nr.773 vom 19.12.2005


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