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Neutralität im frühneuzeitlichen Europa - Politische Theorie und Praxis

Ein despektierlicher Status

Einem militärischen Konflikt fern zu bleiben, unbeteiligt abseits zu stehen, ist ein Recht, das heute jeder Staat für sich in Anspruch nehmen kann. Noch im 17. Jahrhundert sahen Kriegsparteien das anders. Sie wünschten eine klare Trennung in verlässliche Verbündete und Feinde, die zu bekämpfen waren. In den Schriften der frühen Neuzeit erscheinen Neutrale als Drückeberger, die sich aus Feigheit und Trägheit nicht entscheiden können oder hinterlistig agieren, um den eigenen Vorteil zu wahren. Die Wurzeln der Neutralität, wie sie das klassische Völkerrecht kennt, wollen Prof. Dr. Helmut Neuhaus und Prof. Dr. Axel Gotthard vom Lehrstuhl für Neuere Geschichte I der Universität Erlangen-Nürnberg in einem DFG-geförderten Forschungsprojekt freilegen. Empirische Daten und ideengeschichtliche Spuren aus dem gesamten europäischen Raum sollen zu einem Netz verdichtet werden, das den modernen Rechtsanspruch im Prozess seiner Entstehung einfängt.

Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts lehren Völkerrechtler, dass jeder souveräne Regent an einem Krieg teilnehmen oder sich heraushalten kann, ohne dass das eine oder das andere moralisch diskreditiert wird. Über die mit dem neutralen Status verbundenen Pflichten - etwa: keiner der Kriegsparteien Vorteile einzuräumen - besteht ebenso Einverständnis wie beispielsweise über die Unverletzlichkeit des Territoriums des Neutralen. Wird neutrales Verhalten in den Akten des ausgehenden Mittelalters und seit dem 16. Jahrhundert in der gedruckten Literatur erwähnt, fällt dagegen auf, dass es als anrüchig gilt. Neutralität verdient demnach „nicht Respekt, sondern Despekt“; sie ist zumindest unklug, da von keinem der Kriegsgegner Rücksicht zu erwarten ist, wird aber oft auch als verräterisch, heuchlerisch oder lästerlich bezeichnet.

Zur Erklärung dieses abschätzigen Urteils ziehen die Geschichtswissenschaftler zum einen Ehrbegriffe heran, wie sie die Adeligen hegten, die über Krieg und Frieden entschieden. Zudem ist die Lehre vom Gerechten Krieg zu beachten, die noch im 16. und 17. Jahrhundert unbestritten war. Diese Doktrin enthält zwar keine Verpflichtung zum Kampf, sondern benennt nur die Voraussetzungen, die es Christen erlaubten, trotz des Gebots zum Gewaltverzicht die Waffen zu ergreifen. Aus dem gerechten war jedoch, zumal im Zeitalter der Glaubenskämpfe, der notwendige Krieg geworden. Ein Christenmensch hatte für Wahrheit und Gerechtigkeit zu streiten und sie zu verteidigen; sich dem zu entziehen, war sündhaft.

Verachtung angesichts von Lauheit oder Schwäche und Missachtung jeglicher Ansprüche, die Unbeteiligte anmelden mochten, erscheinen deshalb konsequent. Neutrales Gebiet war größtenteils ungeschützter Raum, frei für einfallende Truppen, für Einquartierungen, Beschlagnahmen, Anwerbung von Soldaten. Wer sich keiner Partei anschließen wollte, musste sich mit derjenigen arrangieren, die eben die Oberhand hatte, falls ihm der Krieg nicht ohnehin aufgezwungen wurde. „Hier streitet Gott und der Teufel“, schleuderte König Gustav Adolf von Schweden dem Gesandten entgegen, der ihm die Neutralität des brandenburgischen Kurfürstentums erklären wollte. Zwischen Christ und Antichrist gab es keinen Raum für einen dritten Weg.

Theorie und politische Praxis des neutralen Verhaltens werden in dem Forschungsprojekt gleichermaßen berücksichtigt, anhand ausgewählter Konflikte der Frühen Neuzeit analysiert und verknüpft. Inwieweit bestimmten Denkmuster, wie sie in theologischen und juristischen Traktaten, tagespolitischen Schriften und Flugblättern dieser Zeit zu finden sind, das Handeln der Entscheidungsträger? Hat das „Despektierliche“, das der Neutralität anhaftete, deren Parteigänger geschwächt, sie angreifbar gemacht, Ungewissheit erzeugt, vom Neutralenstatus abgeschreckt? Was verhinderte jahrhundertelang ein konsensfähiges Recht auf Neutralität, und was war Vorbedingung für den Durchbruch? Diese Fragen zu beantworten wird es möglich machen, ein Stück weit nachzuvollziehen, wie das moderne europäische Staatensystem Form angenommen hat.

Weitere Informationen

Prof. Dr. Helmut Neuhaus
Tel.: 09131/85 -22357
Prof. Dr. Axel Gotthard
Tel.: 09131/85 -23937
Lehrstuhl für Neuere Geschichte I
maria galas@rzmail.uni-erlangen.de

 

Mediendienst Forschung-Aktuell Nr.744 vom 10.05.2005


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