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„weiße sklaverei“ im blick des völkerbunds
 

Quelleneditionsprojekt zur Geschichte von Frauenhandel und Zwangsprostitution
„Weiße Sklaverei“ im Blick des Völkerbunds

Abhängigkeit, Erniedrigung und Elend an Stelle der Chance zu einem hoffnungsvollen Neubeginn warteten schon vor hundert Jahren auf Mädchen und Frauen am Ende des Wegs in fremde Länder, und schon damals wurde die Problematik erkannt und benannt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Experten im Auftrag des Völkerbunds in Europa, Asien, Lateinamerika und den USA unterwegs, um die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern zu dokumentieren und Vorschläge für Gegenmaßnahmen zu erstellen. Der am Lehrstuhl Auslandswissenschaft (Romanischsprachige Kulturen) der Universität Erlangen-Nürnberg tätige Historiker Thomas Fischer hat die Pionierstudie zum Anlass für ein Quelleneditionsprojekt genommen. Parallelen zum modernen Menschenhandel von heute sind in den Berichten unschwer zu erkennen.

Frauenhandel und Prostitution bilden eines jener Themenfelder, die bereits im 19. Jahrhundert fest in einem transnationalen Diskurs verankert waren. Handlungsbedarf sahen die Behörden von Nationalstaaten und Kolonien einerseits wegen moralischer Bedenken und andererseits wegen grassierender Geschlechtskrankheiten. Neben diesen Gemeinsamkeiten führte sie auch die Tatsache, dass sich unter den Prostituierten der Großstädte zahlreiche zugewanderte Frauen und Mädchen befanden, ja dass es einen internationalen Markt für potentielle Prostituierte und bereits im Gewerbe tätige Frauen gab, in einer Nationen übergreifenden Debatte zusammen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte durch Übertragung des Begriffs der Sklaverei auf das Sexgewerbe mit weißen Frauen eine Emotionalisierung der Diskussion. Zahlreiche Organisationen in Europa, den USA, Lateinamerika und auch in den Kolonien bemühten sich darum, die „weiße Sklaverei“ abzuschaffen. Die Träger dieser Bewegung waren zumeist besorgte Bürger oder Aristokraten. Auch ein Teil der Frauenbewegung engagierte sich in der Debatte. Die Kampagne zur Bekämpfung der „weißen Sklaverei“ war transnational, sie fokussierte die Städte, und sie hatte eine kulturkritische Ausrichtung. Gegen diese Perspektivierung wehrte sich eine Gruppe von Hygienikern und Sozialmedizinern, welche Prostitution zumeist als notwendiges Übel betrachteten und folglich deren „Humanisierung“ anstrebten.

In den 1920er Jahren erhielten die Bemühungen um die weltweite Regulierung von Frauenhandel und Zwangsprostitution im Völkerbund eine internationale institutionelle Anbindung. Im Rahmen der „Weltorganisation“ wurde zur Bekämpfung dieser Phänomene eine feste Kommission für Frauen- und Mädchenhandel eingerichtet, die weitgehend mit Fachleuten besetzt wurde.

Dieses Gremium setzte 1923 ein Team von Feldforschern ein, dessen Aufgabe darin bestand, eine Bestandsaufnahme der wichtigsten Routen und Praktiken des Frauenhandels sowie der Zwangsprostitution vorzunehmen und, darauf aufbauend, geeignete Gegenmaßnahmen vorzuschlagen. Der 1927 veröffentlichte Abschlussbericht beschrieb „alle Formen, in denen Frauen oder Kinder gehandelt oder sexuell zu Gewinnzwecken ausgebeutet wurden, sei es zu Hause oder im Ausland“.

Die Arbeit der Forscher begann selbstverständlich in den großen europäischen Städten wie Paris, London, Warschau und Berlin. Aber auch Istanbul, Tunis, Kalkutta und zahlreiche lateinamerikanische Städte sowie New York wurden in den Blick genommen. Die Experten bereisten insgesamt 27 Staaten; sie nahmen rund 6.500 Befragungen vor. Zwar war der Bericht keinesfalls umfassend, doch handelte es sich um die bis dahin gründlichste Studie zur Problematik. Die heutige internationale Diskussion über Frauenhandel und Zwangsprostitution lässt sich auf die Bestrebungen zur Regulierung im Völkerbund zurückführen.

Mit der Unterstützung der Hans-Frisch-Stiftung ist Thomas Fischer seit 2003 daran, die dem Völkerbundsbericht zugrunde liegenden, nicht veröffentlichten Interviews mit den an Frauenhandel und Zwangsprostitution Beteiligten, also etwa Prostituierten, Zuhältern und Händlern zu sichten und eine Auswahl davon zu veröffentlichen. Auch Befragungen mit Überwachungsbehörden, etwa mit Immigrationsbeamten oder Vertretern der Gesundheitspolizei, werden abgedruckt.

Fischer möchte mit der geplanten Publikation der bisher nahezu inexistenten Forschung über die Geschichte des Frauenhandels eine Anschubhilfe geben. Die von ihm in den Genfer Archiven zusammengetragenen Interviews mit den beteiligten Akteuren der 1920er Jahre geben Aufschluss über die Wege der Frauen, die Orte ihrer Tätigkeit, die Bräuche und Zwangsmechanismen im Gewerbe sowie die Regelungsversuche durch Behörden. Kennern der heutigen Frauenhandelsproblematik kommt vieles bekannt vor. So deckt sich beispielsweise die geographische Herkunft der Frauen zum Teil mit heutigen Herkunftsgebieten (Ukraine, Polen). Ihr Zielort lag allerdings häufig nicht in Europa, sondern in Übersee, insbesondere in Argentinien, Uruguay, Brasilien und Kuba.

Fischers Publikation wird das Wissen über die Geschichte des organisierten Verbrechens zweifellos verbessern. Auch von der historischen Migrationsforschung und Experten im Bereich Gender-Studies wird sie herangezogen werden.

Opfer und Ausbeuter: Wilhelmina Schmidt und ihren Landsmann Nardor Gerwitz trafen die frühen Feldforscher in Kuba an. Die Fotos entstammen einem Polizeibericht, der für beide das Geburtsland Rumänien, die Namen der Eltern und die derzeitige Adresse, für Gerwitz als „Souteneur von Schmidt“ darüber hinaus den Beruf „Merchant“ und ein Alter von 19 Jahren angibt. Opfer und Ausbeuter: Wilhelmina Schmidt und ihren Landsmann Nardor Gerwitz trafen die frühen Feldforscher in Kuba an. Die Fotos entstammen einem Polizeibericht, der für beide das Geburtsland Rumänien, die Namen der Eltern und die derzeitige Adresse, für Gerwitz als „Souteneur von Schmidt“ darüber hinaus den Beruf „Merchant“ und ein Alter von 19 Jahren angibt.

Opfer und Ausbeuter: Wilhelmina Schmidt und ihren Landsmann Nardor Gerwitz trafen die frühen Feldforscher in Kuba an. Die Fotos entstammen einem Polizeibericht, der für beide das Geburtsland Rumänien, die Namen der Eltern und die derzeitige Adresse, für Gerwitz als „Souteneur von Schmidt“ darüber hinaus den Beruf „Merchant“ und ein Alter von 19 Jahren angibt.

Weitere Informationen

PD Dr. Thomas Fischer
Tel.: 0911/5302 -687
t homas.fischer@wiso.uni-erlangen.de

 

Mediendienst Forschung-Aktuell Nr.723 vom 16.11.2004

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