Ana Teresa Torres

Autorenporträt, Biographie / Veröffentlichungen

(Venezuela)

Freitag, 3.10.97, 10 Uhr
Forum 1, Redoutensaal
Theaterplatz, Erlangen

Sonntag, 5.10.97, 12 Uhr
Kulturladen Nord
Wurzelbauerstr. 29/35, Nürnberg

 

Gegen das Vergessen

"Ich komme heute das letzte Mal, um meine Landschaft zu besuchen,... dieses Dorf, das in meinen Augen einer Dörflerin das Profil einer großen Stadt hatte, in der 87 Jahre lang von sehr kurzen Ausnahmen abgesehen mein ganzes Dasein verlaufen ist. In ihr gibt es nichts, das an mein Leben erinnert, ihr Anblick ist mir völlig fremd, doch zuweilen, im gedämpften Licht des Nachmittags, lassen mich eine Geste des Windes in ihren Bäumen, eine Bewegung der Schatten über den Bergen, ein langgezogener Ton der Vögel oder ein starker Platzregen einen Augenblick lang fühlen, daß es mich noch gibt."

Caracas im Jahr 1985. Doña Inés Villegas y Solórzano wirft einen letzten Blick auf den Ort, der ihr Heimat war. Einen allerletzten Blick: Vor über 200 Jahren schon, am 24. April 1781, hatte sie das Zeitliche gesegnet - ihren Frieden findet sie erst jetzt.

Die Titelheldin in Ana Teresa Torres' Roman "Doña Inés contra el olvido" (Doña Inés gegen das Vergessen) ist ein merkwürdiges Wesen. Nein, sie ist die Merk-Würdigkeit selbst.

Fast 300 Seiten lang geistert Doña Inés durch das Buch und durch ihr Haus in Caracas. Auf der Suche nach Dokumenten, die ihr Recht geben im Streit um ein Stück Land, das Juan del Rosario, ein von ihr selbst Anfang des 18. Jahrhunderts freigelassener Sklave, für sich beansprucht hatte. Auf der Suche nach Indizien, die über fast 300 Jahre hinweg verstreut liegen in den Geschichten ihrer Familie und in der Geschichte ihres Landes. Schön, bizarr, diese Recherche nach einer verlorenen Zeit. Und bemerkenswert vor allem für Venezuela, für das "Land der Gedächtnisschwäche".

Doña Inés tritt als eine unnachgiebige Anklägerin auf. Ihre Sache verfolgt sie mit Inbrunst, mit dem hilflosen Zorn der Betrogenen und der Verbissenheit einer Besserwisserin. Auch wenn sie mitunter den Faden der Erinnerung verliert, gelegentlich abschweift und vom Hundertsten ins Tausendste kommt - in der alten Dame brennt (noch) immer Lebensglut.

Eines weiß Doña Inés ganz sicher: Nie hatte ihr Mann Alejandro dem Juan del Rosario das Curiepe-Tal versprochen. Der nahm es sich einfach, einen Bruchteil aus dem kolonialen Großgrundbesitz der Familie, im Jahr 1715 und bewirtschaftete es fortan gemeinsam mit anderen Ex-Sklaven. Ohne jedes Recht, meint sie, auch wenn zwei Schwarze von einer abenteuerlichen Seereise nach Europa mit der Legitimation ihrer Ansprüche durch König Karl III. zurückkehrten.

Der Fall zieht sich durch ein Labyrinth von Zeit und Raum. Genau im Detail, farbig, mit Vor- und Rückblenden diktiert Doña Inés einem namenlosen Schreiber die Chronik der Ereignisse, 1715-1985.

Die Familie der Villegas hat in Venezuela alles mitgemacht: die spanische Eroberung und Landnahme, die Unabhängigkeitskriege unter der Führung des in Caracas geborenen Simón Bolívar von 1810 bis 1814, die Bürgerkriege im 19. Jahrhundert, die folgende Liberalisierung, die Diktaturen im 20. Jahrhundert bis hin zur Demokratisierung 1964. Doña Inés kennt viele haarsträubende Geschichten. Sie erzählt sie oft spöttisch und mit leiser Ironie - und manchmal auch, beim Siechtum z.B. der Generäle Crespo oder Gómez, voll Häme, Gift und Galle.

Politischer Aufbruch, soziale Misere. Doña Inés' Untersuchungsbericht zeigt, daß in Caracas weit über den nationalen Rahmen hinaus Geschichte geschrieben wurde: "In diesem Dorf hat Amerika die Emanzipation erfunden". Hier werden die Etappen der sozialen Entwicklung aufgeblättert, der Roman zeigt, wie sich die Gewichte in den Klassen und Hautfarben verschoben haben - und daß die Unterschiede zwischen Arm und Reich bis heute kraß geblieben sind.

Ironie der Geschichte: Im Jahr 1884 werden die Villegas und die del Rosarios in gleichem Maße Opfer schamloser Bereicherungs-Politik. Diktator Crespo läßt beide Landbesitze enteignen - für den Bau der Eisenbahn, vor allem aber für den Ausbau des eigenen Besitzes. Hundert Jahre später bestätigt Heliodor, ein Historiker und eben deshalb verarmt und im gesellschaftlichen Abseits, die Version der Doña Inés. Ana Teresa Torres' Buch schließt versöhnlich: Die historische Wahrheit ist zu ihrem Recht gekommen. Und die Nachkommen der Kontrahenten einigen sich auf gemeinsame Nutzung des Bodens, die auch etwas für Straßen-Kinder und Arbeitslose bringen soll - so findet Doña Inés endlich Ruhe.

"Doña Inés contra el olvido", 1992 veröffentlicht, ist Ana Teresa Torres' zweiter Roman. In "World Literature Today" schreibt Cynthia Tompkins: "Der Text hat einen Nachklang von Garcia Márquez' "Hundert Jahre Einsamkeit" und dem "Geisterhaus" Isabel Allendes". Ist Doña Inés eine Kämpferin für Frauenrechte, eine Art weibliches Gewissen? Im Gespräch mit der Übersetzerin Elisabeth Brilke sagt Torres: "Doña Inés spielt eigentlich eher die Rolle eines kritischen Bewußtseins, sie ist keine Person mit eigenen Handlungsmöglichkeiten. Sie ist ... eine Stimme außerhalb der Macht ...: die Inhaber der Macht waren Männer und sie haben und hatten eine schwere Verantwortung für alles, was geschehen ist und geschieht."

Ana Teresa Torres geht es in ihren Büchern um Selbstvergewisserung, um kritische Bestimmung des persönlichen und nationalen Standorts. Nicht nur die Zukunft, auch das Verständnis und Erleben der Gegenwart braucht Herkunft. Ein Erinnerungsbuch war schon ihr erster Roman, "El exilio del tiempo" (Das Exil der Zeit - 1990). Vielstimmig erzählt er über fast hundert Jahre hinweg, wie eine venezolanische Familie im Lauf der Zeit an Wohlstand und Ansehen verliert, und zugleich das alte Caracas fast unbemerkt verschwindet - das Tempo der Modernisierung ist rasend, die Wunschbilder des Fortschritts sind kaum reflektiert. "Was uns fehlt", sagt Torres, "ist Kontinuität". Das Buch stand monatelang auf der Bestseller-Liste, die Autorin erhielt dafür die Literaturpreise des Kulturrats von Venezuela und der Stadt Caracas.

Als Mitglied der Internationalen psychoanalytischen Gesellschaft hatte sich Torres in psychologischer Forschung, Lehre und Therapie einen Namen gemacht. Nach dem Erfolg ihres Debüt-Romans widmete sie sich ganz dem Schreiben, zuletzt auch für den Film. Der dritte Roman, "Vagas desapariciones" (1995), führt in Ana Teresa Torres' berufliche Erfahrungswelt: Wärter und Insassen einer Psychiatrischen Klinik, "vereint im Gefühl des Scheiterns" als "Außenseiter einer Gesellschaft, die auf die Erfolgreichen setzt".

 

Lebenslauf

Ana Teresa Torres, geb. 1945 in Caracas/Venezuela, dort und in Spanien aufgewachsen; Abitur in Madrid. Rückkehr, Psychologie-Studium in Caracas (Dr. 1968); Psychoanalytiker-Ausbildung (Abschluß 1982). Arbeitete als Therapeutin in Heilanstalten und Privat-Praxen, als Dozentin an Universitäten und bei der Psychoanalytischen Gesellschaft Caracas; seit einigen Jahren freie Schriftstellerin. Lebt mit ihren beiden Kindern in Caracas.

Auszeichnungen

Premio de Narrativa 1991 der Stadt Caracas und des Kulturrats von Venezuela für "El exilio del tiempo"; Premio de Novela 1991 bei der 1. Biennale Mariano Picón-Salas/Mérida für "Doña Inés contra el olvido"; Preis der Tageszeitung El Nacional 1984 (Sparte Erzählung) für "Retrato frente al mar".

Veröffentlichungen

Seit 1973 Kurzprosa in Zeitungen und Zeitschriften in Venezuela, seit 1990 vier Romane und Erzählungen in diversen Anthologien (Venezuela, USA). Essays und wissenschaftliche Beiträge, u.a. zur politischen Verantwortung der Schriftsteller, zu Neurosenforschung und weiblicher Sexualität. Literatur-Kritiken für wichtige Zeitungen des Landes.

Deutsch:

"Wenn ich ein Drehbuch über den Wandel der Zeiten in Caracas schreiben wollte ...", Übers. Elisabeth Brilke, in: "Andere Länder - andere Zeiten" (Anthologie), Hg. Interlit e.V., Marino Verlag, München 1997.

Spanisch (Auswahl):

"Malena de cinco mundos" (Roman), Literal Books, Washington 1997; "Vagas Desapariciones" (Roman), Ed. Grijalbo, Caracas 1995; "Doña Inés contra el olvido" (Roman), Monte Avila Ed., Caracas 1992; "El exilio del tiempo" (Roman), Monte Avila Ed; Caracas 1990; "Retrato frente al mar" (Erzählung), in der Anthologie: "El Nacional", Monte Avila Ed., Caracas 1990.