Shashi Tharoor
(Indien / USA)
Autorenporträt, Biographie / Veröffentlichungen
Freitag, 3.10.97, 15 Uhr
Forum 2, Redoutensaal
Theaterplatz, Erlangen
Dienstag, 7.10.97, 20 Uhr
Kulturladen Ziegelstein,
Ziegelsteinstr. 102/104, Nürnberg
Blick zurück ins Hier und Jetzt
"Sie erklären mir, Indien sei ein unterentwickeltes Land.
Sie besuchen Seminare, treten im Fernsehen auf, kommen sogar bei mir vorbei
und verkünden, während sie ihre Achthundert-Rupien-Anzüge
glattstreichen und ihre Hartschalenköfferchen umklammern, in grenzenlos
verständnisvollem Ton, daß Indien sich erst noch entwickeln müsse.
Natürlich alles dummes Zeug ... Ich erkläre ihnen, wenn sie nur
einmal das Mahabharata und das Ramayana läsen ..., dann
würden sie begreifen, daß Indien kein unterentwickeltes, sondern
ein hoch entwickeltes Land im Zustand fortgeschrittenen Verfalls ist."
Was heißt hier Fortschritt, was sind schon ein paar hundert Jahre
kolonialer und industrieller Macht gegen drei-, viertausend Jahre Kulturgeschichte.
Man lege die westliche Brille beiseite, und schon stellen sich die Dinge
ganz anders dar!
Shashi Tharoor vollzieht in "Der große Roman Indiens"
(dt. 1995) einen gründlichen Wechsel der Perspektive: die Geschichte
Indiens im 20. Jahrhundert, gesehen im Licht des über 2.000 Jahre alten
Sanskrit-Epos Mahabharata. Angefangen 1913 mit dem Massaker von Jallianwala
Bagh und Gandhis erster Satyagraha-Kampagne 1919, dem sog. Salzmarsch; weiter
über die Jahre des Befreiungskampfes, den Abzug der Briten 1947 und
die Aufteilung des Subkontinents in Indien und Pakistan bis hin zur zweiten
Wiederwahl Indira Gandhis 1980. Ob die Kontrolle des Landes nach der Unabhängigkeit
durch Nehru, durch die Kongreß-Partei und Nehrus Tochter, ob die Konflikte
um Kaschmir, Tibet oder zwischen den religiösen Gruppen - alles Wesentliche
kommt in den Blick. Nur alles eben anders.
Eine moderne Version des Hindu-Mythos, des längsten Heldengedichts
der Weltliteratur - werden da neue Helden fürs Hier und Jetzt besungen?
Von wegen, es geht ganz schön respektlos zu.
Listig und mit leichter Hand sucht Tharoor das Passende zusammen: zentrale
Figuren und Ereignisse der Zeitgeschichte, projiziert auf Hauptstränge
jener Familienfehde, die das Mahabharata in etwa 100.000 Zweizeilern erzählt.
Das reduziert fast jede Größe - auf all das wenig Schmeichelhafte,
was Kleinkriege zwischen Sippen seit eh und je befeuert, im allgemeinen,
im besonderen Fall. Der durchwegs ironische Erzählton tut ein übriges.
Er färbt auf beide Geschichten ab. So werden die Heroen in Mythologie
und Nationalhistorie aufs normale Maß gestutzt. Selbst der gewaltlose
Widerständler Mahatma Gandhi muß Federn lassen.
Doch ein billiger Scherz ist das Ganze nicht - viel eher eine lässige
Verbeugung vor dem großen Erbe. Gleich eingangs zitiert Tharoor
den Sanskrit-Forscher C.R. Deshpande: "Das Mahabharata hat nicht
nur die Literatur, Kunst, Bildhauerei und Malerei Indiens beeinflußt,
sondern auch geradezu den Charakter des indischen Volkes geformt".
Besonders wirkt das berühmte Lehrgedicht im Epos, die Bhagavadgita,
nach. Ob in Fragen des Alltags, der Lebensorientierung oder bei politischen
Kontroversen - fast überall nehmen Hindus bis heute Bezug "auf
die Gedankenwelt des Mahabharata". Mit diesem Wissen treibt Tharoor
sein Spiel um neue Sicht und Einsicht.
Der Witz steckt in vielen Details, zu einem Gutteil auch in den verschlüsselten
Namen der Romanfiguren. Der Erzähler z.B. heißt Ved Vyas,
oder kurz V.V. 88 Jahre ist er, ein alter Stänkerer und
Zeit seines Lebens im engsten Dunstkreis der Macht. Weil er überall
mitgemischt hat, weiß er genau, wie es wirklich war. Für seine
geschichtsträchtigen Erinnerungen kann er keine Tippse brauchen, "deren
Steno an ihren Fingernägeln scheitert". In Ganapathi
findet er einen qualifizierten Sekretär. Beeindruckend, dessen breite
Stirn und sein elefantenschwerer Schritt - im Mythos ist der
Erzähler ein Weiser, Vyasa mit Namen, und sein Schreiber Ganapathi,
der Elefantengott.
V.V. wirft den Blick zurück im Spott. Geht es um Mahaguru Gangaji,
alias Mahatma Gandhi - und der kommt oft ins Bild, weil er eben immer wieder
"die Geschichte an sich" reißt -, muß V.V.
sein Lästermaul schon mal zügeln. Kein Heiliger, aber ein
meisterhafter Stratege. Eine starke Figur, selbst wenn er hier nur
den "Großen Mango-Marsch" anführt, sein Keuschheitsgelübde
um des dynastischen Friedens willen ablegt und die Kür des Dhritarashtra
als politischen Erbfolger auch nicht so glücklich ausfällt. Dhritarashtra
(Nehru) "besaß die Gabe der Blinden, die Welt nicht so zu
sehen, wie sie war, sondern wie er sie haben wollte". Genau so,
wie er es bei den Fabian Socialists in London aufgeschnappt hatte.
In Rage bringt V.V eine wie Priya Duryodhani. Im Mythos besetzt
sie die Stelle der hundert Söhne Dhritarashtras - wahre Finsterlinge
der Macht. Nehrus Tochter Indira Gandhi hätte sich erkennen können.
Die Briten aber trifft die Wut voll und offen: "Vergiß nicht,
daß die Briten das einzige Volk der Geschichte sind, das genug mit
Dummheit geschlagen war, um aus Amerikanern Revolutionäre zu machen".
Diese Stupidität hat auch in Indien schrecklich gewütet
- "in stupendem Ausmaß". Am Ende ist das heutige
Indien "das Land der Computer und der Korruption".
Shashi Tharoors Buch ist eine politische Satire, die alte und neue Mythen
Indiens entlarvt. Den Anspruch auf letzte Wahrheit hat es nicht. Über
die "Art von Geschichten, die Gesellschaften über sich selbst
erzählen" muß stets aufs Neue nachgedacht werden.
Das Original erschien in Indien 1989 unter dem Titel "The Great
Indian Novel" (im Sanskrit ist maha = groß, bharata = Indien).
"Seit langem das erste Buch eines Inders, dessen Titel gerechtfertigt
ist", schrieb der erfolgreichste Autor und Doyen der indischen Literatur
Khushwant Singh, 1993 zu Gast bei INTERLIT 3, - und riet zum raschen Kauf,
da ein Verbot drohe. Der Bann blieb aus, die Frechheit siegte. Das Buch
wurde in Indien ein Bestseller und mehrfach ausgezeichnet: Commonwealth
Writers Prize und Indian Publishers Best Book Award 1990. Die Literaturbeilage
der Londoner Times lobte: "Eine tour de force von beachtlicher Brillanz".
In der FAZ stand zu lesen: "Es ist ein jugendlich schwungvoller, frecher
und blitzgescheiter Roman". (Martin Kämpchen)
Seit dem Roman-Debüt wird Shashi Tharoor mit indischen Autoren von
Weltrang verglichen: mit Salman Rushdie, Vikram Seth, Amitav Ghosh. Tharoor
hat damit eine zweite glänzende Karriere gestartet. Schon mit 22, 1978,
trat er in den Dienst der Vereinten Nationen. In Genf und Singapur war er
im Flüchtlingswerk der UN tätig, u.a. in der Hilfe für die
Boat people aus Vietnam. An der Seite von Kofi Annan hat er sich in den
Jahren 1991-96 in der Krisen-Diplomatie für Ex-Jugoslawien ausgezeichnet,
jetzt arbeitet er im New Yorker UN-Headquarter als Executive Assistant des
Generalsekretärs.
Als Ausgleich, sagt Tharoor, genieße er es, in seinen Büchern
"sehr ironisch und relaxed" zu schreiben. Sein zweiter Roman,
"Show Business" (1992), ist ein sarkastischer Blick vor und hinter
die Kulissen der indischen Traumfabrik des Films, "Bollywood"
in Bombay. Die Kitsch-Produktion Indiens ist legendär und weltweit
die größte, hier steht sie für die bizarren Widersprüche
des Landes. Pünktlich zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens
erschien die Sammlung "India: From Midnight to the Millennium"
- literarische Texte, Essays, Erinnerungen, Polemiken zur Entwicklung und
Zukunft der größten Demokratie der Welt.
Lebenslauf
Shashi Tharoor, geb. 1956 in London, aufgewachsen in Bombay und Kalkutta.
Studium in Neu Delhi und den USA, Tufts University: Internationales Recht
und Wirtschaftswissenschaften (Dr. 1978). Dann Diplomat bei den Vereinten
Nationen, verantwortliche Mitarbeit im Flüchtlingswerk und bei friedenserhaltenden
Maßnahmen; Stationen: Genf, Singapur und Indonesien (Hilfe für
vietnamesische Boat people), Ex-Jugoslawien (1991-96, Koordination des Blauhelm-Einsatzes).
Lebt derzeit mit seiner Frau und seinen Zwillingssöhnen in New York
und arbeitet als Executive Assistant für UN-Generalsekretär Kofi
Annan.
Auszeichnungen
Commonwealth Writers Prize 1990 und Indian Publishers Best Book Award
für "The Great Indian Novel"; Kripalani Young Journalist
Award 1976.
Veröffentlichungen
Seit 1989 zwei Romane, eine Sammlung mit Erzähltexten und Essays,
ein Erzählband und ein Theaterstück; eine Studie über die
indische Außenpolitik. Englische Ausgaben in Indien, USA, Großbritannien,
Übersetzungen des Debüt-Romans in mehrere Weltsprachen. Regelmäßige
Beiträge für wichtige Printmedien in Indien, England und den USA.
Deutsch:
"Der große Roman Indiens" (Original 1989), Übers.
Anke Kreutzer, Claassen Verlag, Hildesheim 1995.
Englisch:
"India: From Midnight to the Millennium" (Geschichten und Essays),
Arcade Publishing, New York 1997;
"Show Business" (Roman), Viking Penguin India, New Delhi 1991
und Arcade Publishing, New York 1992;
"The Five-Dollar Smile" (Short Stories und Theaterstück),
Penguin Press, New Delhi 1990 und Arcade Publishing, New York 1992;
"The Great Indian Novel" (Roman), Penguin Books, New Delhi
1989 und Viking, New York 1989.
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