Ana María Shua

(Argentinien)

Autorenporträt, Biographie / Veröffentlichungen

Freitag, 3.10.97, 20 Uhr
Adam-Kraft-Gymnasium
Bismarckstr. 6, Schwabach

Sonntag, 5.10.97, 15 Uhr
Forum 6, Redoutensaal
Theaterplatz, Erlangen

 

Eine Löwin geht jagen

"... so ein richtiges Fiebern mit vierzehn, fünfzehn, sechzehn, bevor es so weit ist, verrücktes Fiebern eines keuschen kleinen Mädchens, das nicht vögelt, das mit Jorge geht, das Kino, der Parque Rivadavia, Hände unter und über dem Büstenhalter, man kriegt ihn nicht auf, man läßt sich nicht so ohne weiteres den Schlüpfer ausziehen, das ausgeleierte Gummiband jedesmal erneuern, sie werden feucht, sie werden heiß, später, wenn man vögeln kann, ist es schon nicht mehr dasselbe, Jorgito, es ist nicht mehr dasselbe Fieber, auf dem Rücken am Boden, Beine breit, Hintern auf dem Teppich ...".

Rasende Bilder eines Liebeslebens, im Schnelldurchlauf wie bei einer Sterbenden. "Lauritas Liebschaften" leuchten in der Phantasie der Titelheldin am Ende des Romans noch einmal auf. Anfang 30 ist sie da vielleicht.

Es ist ein heißer Nachmittag in Buenos Aires. Laura ist zurück von der Schwangerschaftsgymnastik im Institut Crisalida, "eine gebildete, begabte Hochschulabsolventin". Sie steht kurz vor der Niederkunft, nach einer Abtreibung erwartet sie ihr erstes Kind. Bis ihr Mann kommt, bleibt noch viel Zeit. Nur ein paar Erdbeeren sind zu putzen, dann was der Arzt rät: Brustwarzen massieren und Mittagsschlaf. Wie die meisten freut sich Laura auf ihr Kind.

Und wie viele heute fürchtet sie die Ehe und die Mutterschaft. In die Tagträume dieses Nachmittags mischen sich erotische Wünsche, Gefühle der Scham und die Angst, daß es nun vorbei ist mit dem Sex: "Mütter vögeln nicht" - Endstation "ihrer Sehnsucht nach Wildheit und Ekstase".

Ana María Shua erzählt in "Lauritas Liebschaften" (dt. 1992), wie sich eine Tochter aus einer gutbürgerlichen jüdischen Familie auf den Weg zu mehr Freizügigkeit macht. Es sind die späten 60er und die 70er; "Hey Jude" ist ein Song zum Schmusen, man trägt Hosen mit weitem Schlag und die jungen Mädchen dürfen jetzt viel Haut zeigen. Nach Rock'n Roll und '68, nach Demos und Straßenrevolten (in Argentinien gegen das Putsch-Regime von General Ongania) ist es in Buenos Aires fast wie überall in der westlichen Welt.

Jetzt gibt es Verhütungsmittel und Laura hat das Glück, daß es ihre Eltern lockerer sehen. Etwas lockerer. Mit der Neugier und Gier des Körpers ist es nicht mehr ganz so schwer. Theoretisch zumindest. Mit dem Durchblick für Triebstruktur und Verklemmungen der Gesellschaft, mit Sartre, Georges Bataille und Julio Cortázars Büchern über die Psyche des argentinischen Bürgertums im Kopf.

Im richtigen Leben ist das meiste halb so wild - und in Shuas ironischer Beschreibung oft sehr zum Lachen. Richtige Orgien z. B., Superfeten, sind eher hochtrabende Talk-Shows unter Jungstudenten, komplizierte Rituale mit viel Bildungsquark und noch mehr Alkohol. Von wegen free and easy, der Streß für ein bißchen Gefummel ist enorm. Oder wenn Lauras Club der jungen Dichter, Denker, Maler - statt zu dichten, denken, malen - endlos debattiert über eine "zerstörerische, ungezähmte Kunst", gipfelt die Provokation in der Parole "Vögelt, die Welt geht unter!". Komisch, weil Laura wie alle im Bunde sehr strikt die Zweisamkeit pflegt.

Mit der Zeit macht Laura ihre Erfahrungen: Jorge, Sergio, der Dünne Sivi, Gerardo, Kalnicky, Pablo - der Roman erzählt von Lauras Männern in Etappen. Im Rückblick sind es kleine Siege der Enthemmung. Anfangs noch verwundert "über ihren Körper, der immer Lust hatte", merkt sie, daß es Lust auch ohne Liebe gibt. Buenos Aires ist riesig. Laura nutzt die Freiräume "im vielgestaltigen, zusammengewürfelten Chaos der Stadt". Die Anmache bleibt Männersache, doch Laura versteht, die Begehrlichkeit zu locken und zu lenken: "Der Löwe jagt" - ein Irrtum männlicher Eitelkeit, mit dem sie leben kann.

So lernt Laura zu genießen. Die Reue wird sie bis zum Schluß nicht los: "... du wirst von einem zum anderen hinunterschlittern, wirst absteigen." Die Stimmen des Vaters, der Familie, der sozialen Norm - sie kommen wie Heimsuchungen. Dazu gehört, daß Männer vor allem Schutz und Sicherheit bieten sollen: "in einem fairen Kampf eine Anaconda besiegen", das müßten sie schon. Ein brillantes Versorgungsangebot ist da nicht genug. Laura läßt Kalnicky, einen jungen Arzt aus bestem Stall, abblitzen. Zu erbärmlich, der Kerl. Am Ende heiratet sie einen Geschäftsmann. Ob sie sich verkauft hat, bleibt offen.

"Lauritas Liebschaften" paßt in keine Schublade der Frauen-Literatur. Ob Alt-Macho, Neu-Macho oder die moderne Laura - komische Helden sind sie alle. Ana María Shua beschreibt ohne Scham, wovon argentinische Frauen zu träumen wagen: Alles hat seinen richtigen Namen. In den Teilen des Körpers steckt viel verborgene, verbotene Wahrheit. Das ist der Rede wert. Shua zeigt, daß die Distanz zwischen Phantasie und Ausprobieren kürzer geworden ist. Doch der Konflikt zwischen aufgebrochenen Sehnsüchten und dem traditionellen Frauenbild ist nicht erledigt. Für beide Geschlechter nicht. Die sexuelle "Befreiung" ist schwieriger, als wir für möglich halten.

In Argentinien sind "Lauritas Liebschaften" ein Dauerbrenner, derzeit in der vierten Auflage. Dieser, Shuas zweiter Roman, erschien 1984, kurz nachdem General Galtieris Gewaltherrschaft am Ende war. Aufbruchstimmung zunächst in allen Bereichen, bis die andauernde wirtschaftliche Misere auch die Kultur lähmte.
Ana María Shua hat in dieser Zeit viel für Film und Bühne geschrieben. "Lauritas Liebschaften" und der erste Roman, "Soy paciente" (1980) - eine vieldeutige Gesellschaftssatire im Krankenhaus-Milieu - wurden nach ihren Drehbüchern verfilmt. Ein drittes Filmprojekt erhielt auch internationale Preise, u.a. für die beste Komödie des Jahres 1992.

Schon als 16jährige bekam Ana María Shua für ihren Gedichtband "El sol y yo" (Die Sonne und ich) den Förderpreis des argentinischen Fondo Nacional de las Artes. Nach dem Literatur-Studium begann sie als Journalistin und 1980 mit Prosatexten; bis heute sind es drei Romane und eine ganze Reihe von Erzähl-Bänden, Satiren, Kinder- und Jugendbüchern.

Shua ist in ihrem Land eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen. Und die Anerkennung wächst: Zuletzt förderte die amerikanische Guggenheim-Stiftung ihren Roman "El libro de los recuerdos" (Das Buch der Erinnerungen, Übers. ins Amerikanische angekündigt für 1998). Ein Lieblingsthema bleibt für sie das vertrackte Verhältnis der Geschlechter: "El marido argentino promedio" (Der durchschnittliche argentinische Ehemann - 1991) z.B. nimmt es wieder mit Humor. Das Publikum und die Kritik ebenfalls: "Heilsamer Feminismus".

 

Lebenslauf

Ana María Shua, geb. 1951 in Buenos Aires/Argentinien. Literatur-Studium; arbeitete vor allem in der Werbung und als Journalistin für viele Zeitungen und Magazine in Argentinien. Heute Dozentin für Literatur an der Universität von Buenos Aires.

Auszeichnungen

Förderpreis des Fondo Nacional de las Artes 1967 für den Gedichtband "El sol y yo"; Premio Internacional Losada 1980 für den Roman "Soy paciente"; viele nationale und internationale Preise für Erzählungen, Kinder- und Jugendbücher.

Veröffentlichungen

Erster Gedichtband 1967 ("El sol y yo"); seit 1980 drei Romane, vier Sammlungen mit Erzählungen und Kurzgeschichten, sieben Kinder-, Jugendbücher und satirische Texte; mehrere Filmdrehbücher und Theaterstücke. Nach eigenen Drehbüchern wurden in den 80ern die Romane "Los amores de Laurita" und "Soy paciente" verfilmt. Aufnahme in zahlreiche Anthologien in Nord-, Hispanoamerika und Europa; Übersetzungen ins Englische, Französische, Italienische, Holländische und Deutsche.

Deutsch: "Lauritas Liebschaften" (Roman, Original 1984), Übers. Gunhild Niggestich, Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 1992 und Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1995.

Spanisch - Auswahl:

Romane: "La muerte como efecto secundario", Ed. Sudamericana, Buenos Aires 1997; "Los amores de Laurita" , Ed. Sudamericana, Buenos Aires 1984; "Soy paciente", Ed. Losada, Buenos Aires 1980.

Erzählungen: "Casa de geishas", Ed. Sudamericana, Buenos Aires 1992; "Viajando se conoce gente", Ed. Sudamericana, Buenos Aires 1988; "Los días de pesca", Ed. Corregidor, Buenos Aires 1981.

Satiren: "El marido argentino promedio", Ed. Sudamericana, Buenos Aires 1991.

Kinder- und Jugendbücher: "Ani salva a la perra Laika", Ed. Sudamericana, Buenos Aires 1996; "La puerta para salir del mundo", Ed. Sudamericana, Buenos Aires 1992; "Expedición al Amazonas", Ed. Sudamericana, Buenos Aires 1988.

Filmdrehbücher: "Dónde estas amor de mi vida, que no te puedo encontrar", 1992 verfilmt in der Regie von Juan José Jusid - ausgezeichnet als beste argentinische Komödie und mit dem "Panambí" auf dem Filmfestival von Paraguay.

Theaterstücke: "Una señora de carne", Tanztheater, 1989 aufgeführt im Teatro Nacional Cervantes.