Magali García Ramis

(Puerto Rico)

Autorenporträt, Biographie / Veröffentlichungen

Samstag, 4.10.97, 15 Uhr
Forum 4, Redoutensaal
Theaterplatz, Erlangen

Samstag, 4.10.97, 20 Uhr
Kulturladen Nord
Wurzelbauerstr. 29/35, Nürnberg

Dienstag, 7.10.97, 16 Uhr
Theatercafé
Theaterstr. 3, Erlangen

 

Züchtigkeit und Ordnung, oh Gott!

"»Schau her, ich bin ein Mann, ja? Die Pfarrer sind Männer. Die verstehen das schon. Ich kann ihnen sagen, daß ich Bücher über Sex gekauft hab und sogar, daß ich masturbiert hab, und sie fragen mich, wie oft, und verknacken mich zu ein paar Vaterunser und Credos und Ave Marias, und dann vergeben sie mir. Du dagegen ...&laqno;

»Was, ich dagegen?&laqno;

»Du bist eine Frau und darfst gar nichts machen. Die Frauen müssen rein sein. Du wirst nie einen Verlobten bekommen und auch nie heiraten, wenn du nicht rein bist ...&laqno;"

Es war schon immer etwas Besonderes, eine Frau zu werden.

In Magali García Ramis' Roman "Onkel Sergio" (dt. 1996) erklärt Andrés seiner jüngeren Schwester Lidia, was sie in der weißen katholischen (Männer-) Welt Puerto Ricos erwartet. Lidia, ein sensibles, aufgewecktes Mädchen mitten in der Pubertät, zieht ihre Schlüsse, korrekt und noch über diese Welt hinaus: Für ihre "Lasterhaftigkeit" gibt es keine Absolution - aber wenn sie nicht wenigstens am Ostersonntag zur Kommunion geht, ist sie genauso (und auf ewig) "von der Göttlichen Gnade ausgeschlossen".

Teufelskreise der Heilslehre. Junge Menschen können sie in die größte Verzweiflung stürzen.

García Ramis zeigt die Not des Heranwachsens mit Augenzwinkern, mit Humor und einer Ironie, die das Mitfühlen und -denken leichter macht. Aber sie deutet sehr genau auf all die Verwundungen, die sich ihre Heldin Lidia mit der Zeit holt - zu "reifen" ist weniger organisches Wachstum als ein Trotzdem-Aufkeimen und Krummwuchs, ein Zurechtstutzen und Sich-Durchsetzen-Müssen vieler wilder Triebe.

Dieser Prozeß fällt in das Puerto Rico der 50er und frühen 60er. Mittelpunkt ist das Haus der Familie Solis in Santurce, damals noch außerhalb der Hauptstadt San Juan gelegen. Anfangs eine Gegend nur für "bessere" Leute, machen sich hier die sozialen Folgen der von Gouverneur Muñoz Marín forcierten Industrialisierung bemerkbar - mit der Exklusivität ist es schon vorbei.

Für die Solis wird ihr altes Haus zum Bollwerk.

Lidia Solis erzählt ihre Geschichte aus dem Empfinden und der Einsicht ihres Alters. Sie und ihr Bruder Andrés sind in jeder Hinsicht wohlbehütet: Mutter, Großmama Sara und ein Schwarm Tanten sorgen sich um die Erziehung - eine reine Frauenwirtschaft (Vater, Großväter sind tot), aber unisono reden sie mit den Zungen des Patriarchats, "mit dem Papst oder dem Großvater als maßgeblichen, herbeizitierten Autoritäten" (W. Binder).

Das Leben kreist in einem familiären Kosmos, Außenkontakte bietet nur die Schule. Man gönnt sich Reisen nach Europa, die Kinder, auch Tochter Lidia, müssen aufs beste Gymnasium. Eine Insel des Wohlstands, die es zu verteidigen gilt. Eine Welt des Stillstands, in der alles seine feste Ordnung hat, so wie es einmal war und (noch) ist. Ein Haus, "in dem alles, was aus der Vergangenheit stammte, europäisch war, und alles, was in die Zukunft wies, nordamerikanisch."

In der Familie Solis ist die koloniale Zeit verewigt: die Jahrhunderte als Kolonie Spaniens, die jahrhundertlange Abhängigkeit von den USA (ab 1898 als integrierter Teil, seit 1952 als "Freistaat" der USA - die Puertoricaner bestätigten den "Estado Libre Asociado" zuletzt 1993). Die nationale Frage, das Eigene in Politik, Kultur, Geschichte, ist für die Solis - mittelstandstypisch - tabu. Als subversiv gilt, wer die nationale Eigenständigkeit Puerto Ricos will.

In dieser Statik und Enge droht Lidia zu ersticken. Die Verhältnisse sind dabei, sich zu ändern; das Mädchen reagiert normal: mit Neugier auf Sex und populäre Schlager; mit Fragen zu Fidel Castros Umsturz in Kuba und nach der Rechtfertigung für die geforderte Distanz zu den Schwarzen. Für ihre Familie ist das alles andere als normal - Lidia bekommt es zu spüren und leidet unter ihrem Anders-Sein: "Warum bin ich nicht das, was man von mir erwartet, und warum gefällt mir nicht das, was mir gefallen soll?"

Ihr Glück ist Onkel Sergio. Der Onkel kommt ihr wie ein guter Geist zu Hilfe - im Roman ist er mehr in ihren Gedanken als "körperlich" präsent, bleibt bis zum Schluß ein geheimnisvolles Wesen. Er bestimmt nicht, sondern hört zu, redet mit Verständnis, hat Zeit für die Kinder und kann die Zumutungen der oft haarsträubenden Logik und Moral in der Familie mildern. Sergio wird so Komplize - ein Verbündeter im Anders-Sein, ein Mentor für die Selbständigkeit der Sinne und des Verstands.

Onkel Sergio wird auch das Unglück der 13jährigen Lidia. Sie verliebt sich Hals über Kopf, ertappt ihn mit dem Dienstmädchen und erstarrt, als er ebenso plötzlich, wie er gekommen ist, nach New York zurück geht. Als Sergio dort Jahre später stirbt, erfährt sie etwas mehr über ihn: über illegale Aktivitäten für eine Partei, die die Eigenstaatlichkeit Puerto Ricos anstrebt und Gerüchte über Homosexualität. Lidia ist nicht geschockt. Sie ahnt jetzt einen Menschen, der sich seine Freiheit genommen hat - und bereit war, für seine Überzeugungen Opfer zu bringen.

Für Lidia war er ein "Verführer", der ihr nicht den Kopf verdreht hat, im Gegenteil: Sergio könnte ein Vorbild werden.

Mit "Onkel Sergio" hat Magali García Ramis in Puerto Rico für Furore gesorgt. Das Buch (im Original "Felices días, tío Sergio", 1986 - 6. Auflage 1993) wird viel gelesen, quer durch alle Altersgruppen. Die Autorin weiß genau, worüber sie schreibt: Sie selbst ist in Santurce aufgewachsen, zur selben Zeit, im weißen Bürgermilieu.

Im instruktiven Nachwort zur deutschen Ausgabe schreibt Wolfgang Binder, der auch die Übersetzung besorgt hat: García Ramis "gewann aus der Distanz einen klaren Blick auf die eigene Herkunft und das eigene Land." Über den Umweg New York, wo die Autorin bis Anfang der 70er studierte, lernte sie Leistungen und Wert der karibisch-südamerikanischen Kultur schätzen - dort wurde gefeiert, was zu Hause kaum Beachtung fand.

Um die Lockungen einer jungen Liebe und die Widerstände, die eine bürgerliche Familie dagegen setzt, geht es schon in García Ramis' erster Veröffentlichung "Todos los domingos" (Jeden Sonntag - 1971). Die Kurzgeschichte gewann sofort den Preis "Ateneo de Puerto Rico". In der Folge erschienen eine Sammlung journalistischer Beiträge und zwei Bände mit Erzählungen, alle spöttisch sanft im Ton, doch hart und kritisch in der Sache.

 

Lebenslauf

Magali García Ramis, geb. 1946 in Santurce/San Juan, Puerto Rico. Studium: Geschichte in Puerto Rico (B.A. 1968), dann Journalismus an der Columbia University in New York; 1974-76 Lateinamerika-Studien (Dr.) in Mexiko-Stadt. Rückkehr nach San Juan. Seit 1977 Dozentin für Journalismus an der Universidad de Puerto Rico und freie Journalistin.

Auszeichnungen

Ateneo Puertorriqueño 1971 (Sparte Kurzgeschichte) für "Todos los domingos"; Preise des PEN Club de Puerto Rico: 1986 für "Felices días, tío Sergio" (bester Roman), 1993 für "La ciudad que me habita" (beste Essays); Stipendium der Guggenheim-Foundation New York 1988-89.

Veröffentlichungen

Erste Kurzgeschichte 1971, dann ein Roman, zwei Bände mit Erzählungen und eine Sammlung journalistischer Texte. Ausgaben des Romans in Deutsch und Englisch (USA); Erzählungen und Essays in vielen Anthologien, u.a. in Lateinamerika, Europa und den USA.

Deutsch:

"Onkel Sergio" (Roman, Original 1986), Übers. Wolfgang Binder, Rotpunktverlag, Zürich 1996.

Spanisch:

"Las noches del Riel de Oro" (Kurzgeschichten), Ed. Cultural, San Juan 1995; "La ciudad que me habita" (Berichte, Essays, Reportagen), Ed. Hurácan, Río Piedras 1993; "Felices días, tío Sergio" (Onkel Sergio - Roman), Ed. Antillana, San Juan 1986; "La familia de todos nosotros" (Kurzgeschichten), Ed. Cultural, San Juan 1976.