Emile Ollivier

(Haiti / Kanada)

Autorenporträt, Biographie / Veröffentlichungen

Freitag, 3.10.97, 15 Uhr
Forum 2, Redoutensaal
Theaterplatz, Erlangen

Dienstag, 7.10.97, 20 Uhr
Zeitungscafé in der Stadtbibliothek
Eingang Peter-Vischer-Str., Nürnberg

 

Kein Ort, nirgendwo

"Damals, bevor unsere Bäume versengt wurden, breiteten sich in der vom Gesang der Zikaden und Grillen erfüllten Dämmerung die Schatten über die Federbüschel der Zuckerrohrfelder und die Kronen der Bananenhecken aus, befreiten den Duft des Zitronengrases und des Jasmins. An jenem Tag schrieb Amédée seine Vision der dumpfen Hitze und der sengenden, modrigen Luft zu, die die Mangroven einhüllte."

Haiti war schön, damals. Für Amédée Hosange ist es noch immer schön. Schrecklich schön. Ein Paradies im Würgegriff.

Emile Ollivier erzählt in dem Roman "Passages" (1991) von der karibischen Heimat. Es ist der Ort, an dem das Herz seiner Helden hängt - und worum jede Liebesmühe verloren scheint.

Amédée hat viel durchgemacht. Seine Kraft und Vitalität sind jung geblieben, sein Instinkt ist schärfer, sein Empfinden tiefer geworden: "Kakteen, Kolibris, Rote Ameisen, Nachtblumen, Tuff, Kalkstein hatten ihm im Laufe langer Jahre ihre Geheimnisse preisgegeben". Bald 70 Jahre lang ist diese Liebe gewachsen; ebenso lang schon wird sie schwer geprüft.

Menschen, Felder, Häuser, gebrandschatzt für Bananenplantagen-so-weit-das-Auge-reicht; an der Macht feiste Hurer, die nach Bedarf plündern, morden, vergewaltigen lassen; die Stadt ein Jammertal, dessen Bewohner dem Siechtum überlassen sind, das nur ab und an gesäubert wird - für Staatsgäste soll und kann alles in schönster Ordnung erscheinen. Nach der Besetzung durch die USA (1915-34), nach Kahlschlägen der Fruit Company wurde unter "Doc" und "Baby Doc" Duvalier (1957-86) alles noch schlimmer: Das Land öde, die Menschen abgestumpft im Leid, das Klima flirrend von Argwohn und Verdacht.

Amédée ist ein Mann mit Visionen. Mit "Baby Docs" Terror sieht er die Apokalypse nah, glaubt, "ein gewaltiger Zyklon werde sich erheben" und alles mit ins Meer reißen. Gegen die "Macht des Bösen" hilft nur höhere Gewalt. In Amédées Wunschbildern der Rache wirken himmlische Kräfte der Bibel und die Götter Afrikas zusammen. "Aufbruch" rät ein Engel mit Pelikanschwingen und weist den Weg übers Meer.

Amédée zögert. Heimatlose sind wie Ringeltauben. Doch als Geometer in dem kleinen Küstenort Maß nehmen für eine Giftmülldeponie, ist sein Beharrungsvermögen erschöpft: "Port-à-l'Écu sollte also zum Abfalleimer der Weißen werden?" Mit einem selbstgezimmerten Segelschiff, mit seiner blutjungen Geliebten Brigitte und 60 Gefährten, die sich wie er "weigerten, wieder Sklaven zu werden", nimmt er Kurs nach Norden - in der Brandung vor Miami gehen die meisten mit ihren Hoffnungen unter.

"Passages" - Übergänge. Am Strand von Florida kreuzen sich die Geschichten in Olliviers Roman. Vor den Augen von Normand Malavy spült das Meer die Leichen an. Tote Landsleute. Normand lebt seit über 20 Jahren als Exilant im kanadischen Quebec. Erfolgreich, gut integriert scheinbar und glücklich verheiratet mit Leyda. In Miami sammelt er Material über die dort erstarkte haitianische Gemeinde. Für einen Artikel - mehr noch für sich selbst.

Normand ist ein politischer Denker. Für Haitis Freiheit schreibt, organisiert, demonstriert er. Ganz Kind seiner Zeit, gehört er zu einer Generation, "die fast alles Marx, Che und der kubanischen Revolution verdankte", zu jenen Idealisten, die nicht aufhören, "verbissen den rechten Platz für die Politik, für den Alltag und für die Liebe zu suchen". So wird er ein "Experte für alles Unheil dieser Welt".

Vielleicht auch deshalb beginnt Normand mit der Zeit im "Großen Norden" zu frieren - er vermißt die Poesie und spontane Wärme seiner Leute, spürt den Verlust der Zuneigung. In Miami trifft er die junge Exil-Kubanerin Amparo wieder, sie wird Partnerin für die letzten Wochen seines Lebens. Was ihm selbst nicht ganz geheuer ist, wird später in Gesprächen zwischen seiner Frau und Amparo allmählich klar: Das Heimweh hat Normand krank gemacht, an der Verbannung ist sein Herz gebrochen.

Kein Ankommen, kein Entrinnen - die Hauptfiguren stranden zwischen allen Welten. Und ein Zurück? Wer sich zu weit entfernt hat, weiß Amédée, "wird nie eine Zeit finden zurückzukehren".

Ollivier feiert Haitis Düfte, Farben, Töne und Geschöpfe; er erzählt von Wind, Wasser, Küsten, Bergen und er folgt den Spuren, die traumhafte und kriminelle Elemente des Landes in den Seelen hinterlassen haben. Bei all dem geht es ihm um die Folgen des inneren und äußeren Exils: "Heimatlosigkeit ist eine Fabrik der Mythen". Ob das alte oder ein neues Land, "in beiden Fällen erdichtet sich der Geist einen Ort nach Maß" - bricht sich die Wahrheit Bahn, kann es zur Katastrophe kommen.

Für "Passages" erhielt Emile Ollivier 1991 den Großen Literaturpreis der Stadt Montreal. Als das Buch 1994 auch in Frankreich erschien, würdigte es die Pariser Le Monde als Olliviers "gelungenstes Werk". Mit universeller Gültigkeit behandle es "das zerrissene Dasein der Verbannten" und zeige, "daß der Krankheit des Exils niemand entkommt". Auszüge des Romans wurden für die INTERLIT-Anthologie erstmals ins Deutsche übersetzt.

Das Exil ist Emile Olliviers eigenes Lebensthema. Als Aktivist des haitianischen Studentenverbandes "Union Nationale" wurde er in Port-au-Prince politisch verfolgt. Er floh 1964 nach Paris. Seit 1965 lebt er in der frankokanadischen Provinz Quebec. Ollivier hat sich im Exil einen Namen als Schriftsteller und Wissenschaftler gemacht. Nach vier Romanen und zwei Bänden mit Kurzgeschichten gilt er als einer der bedeutendsten Erzähler Haitis. In diesem Jahr erwies ihm Frankreichs Kulturminister höchste Anerkennung: Ollivier wurde zum "Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres" ernannt.

Ein Allheilmittel ist der Erfolg nicht: "Zuerst war ich ein Exilant, dann ein Migrant, und später jemand, der am falschen Ort lebt."

An der Universität von Montreal befaßt sich Ollivier als Professor für Soziologie mit Fragen der Erwachsenenbildung, der Migrationen und der interkulturellen Erziehung. In Essays hat er mehrfach die Chancen der Demokratiebewegung in Haiti erörtert. Sein letzter Roman, "Les urnes scellées" (Die versiegelten Urnen - 1995), führt nach Haiti zurück: Gewalt, Ausverkauf, soziales Chaos - im Westen der Insel Hispaniola noch immer nichts Neues.

 

Lebenslauf

Emile Ollivier, 1940 geb. und aufgewachsen in Port-au-Prince/Haiti. Studium der Philosophie in Port-au-Prince; als Aktivist im haitianischen Studentenverband "Union Nationale" politisch verfolgt, 1964 Flucht nach Paris; weitere Studien: Literatur und Psychologie; seit 1965 im Exil in Quebec/Kanada, seit 1980 diverse Professuren. Lebt in Montreal und lehrt dort an der Universität Soziologie.

Auszeichnungen

Prix Jacques Roumain 1985 für den Roman "Mère Solitude"; Grand Prix du Livre de Montréal 1991 für den Roman "Passages"; Prix Carbet de la Caraïbe 1995; Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres 1997.

Veröffentlichungen

Seit 1977 vier Romane und zwei Erzählbände; zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten und Essays, u.a. über die Demokratiebewegung in Haiti und die allgemeine Entwicklung des Landes. Übersetzungen ins Englische und erstmals ins Deutsche für die INTERLIT-Anthologie "Andere Länder - andere Zeiten".

Deutsch:

"Die sieben Visionen des Amédée Hosange" (Romanauszug, Original 1991), Übers. Giò Waeckerlin Induni, in: "Andere Länder - andere Zeiten" (Anthologie), Hg. Interlit e.V., Marino Verlag, München 1997.

Französisch (Auswahl):

"Les urnes scellées" (Roman), Éd. Albin Michel, Paris 1995;

"Regarde, regarde les lions" (Erzählung), Éd. Myriam Solal, Paris 1995; "Passages" (Roman), L'Hexagone, Montreal 1991 und Le Serpent à Plumes, Paris 1994; "La Discorde aux cent voix" (Roman), Éd. Albin Michel, Paris 1986; "Mère Solitude" (Roman), Éd. Albin Michel, Paris 1983 und Le Serpent à Plumes, Paris 1994; "Paysage de l'aveugle" (Erzählungen), Éd. Tisseyre, Montreal 1997.