Shirley Lim

(Malaysia / USA)

Autorenporträt, Biographie / Veröffentlichungen

Samstag, 4.10.97, 15 Uhr
Forum 4, Redoutensaal
Theaterplatz, Erlangen

 

Crossover der Kulturen

"Die angsana-Bäume waren der gelben Blüten voll. Ihre kleinen Blütenblätter bedeckten einen Teil des Parks, die Morgenluft roch säurescharf nach ihrem Aufblühen, ihrem Zerfall. Gelber Blütenstaub wie Goldstaub fleckte den Boden. Zur Rechten waren die Straits von Malacca immer blau oder grau, Farben standhaft wie ihr Herz, wenn sie rasch zur Schule ging. Ich bin standhaft, dachte sie erheitert. Ich bin ich, niemand ist ich, ich bin allein. Sie vergaß, daß sie hungrig war, zwischen dem Gewicht der blühenden angsana-Bäume und dem leeren blauen Raum des Morgenhimmels und der Malacca Straits."

Ein Ort an der Küste der Halbinsel Malakka; Malaysia zu einer Zeit, als das Land noch britische Kolonie war, etwa Anfang der 50er.

Chai ist auf dem Weg zur Schule. Das achtjährige Mädchen hat chinesische Eltern. Ihre Lehrerin ist eine katholische Nonne mit dem irischen Namen Finnigan und hat "strahlend blaue Augen, kleine flinke Stücke wertvollen Saphirs". Chai lernt, was nach westlichen Standards wichtig ist: das Besticken von Taschentüchern, Evangelien der Bibel, etwas über britische Siege im Siebenjährigen Krieg des 18. Jahrhunderts - Laotse, Buddha, Konfuzius kommen nicht vor.

In der Kurzgeschichte "Hunger" (dt. 1997) erzählt Shirley Lim von einem Mädchen, das sehr früh eine intensive Selbstwahrnehmung entwickelt. Niemand ist ich. Ihre Mutter ist "irgendwo hingegangen, weggegangen", das Netz aus Fürsorge und Kontrolle gerissen. Für Chai gibt es jetzt "mehr Zeit für spätes Zubettgehen, Spiele, Spaß".

Niemand ist mehr da, der sich richtig um sie kümmert. Der Vater überfordert, die Brüder mit sich selbst beschäftigt, nur ein paar Tanten erbarmen sich ab und zu. Ich bin allein. Andere Kinder sind geschniegelt, gebügelt, mit fetten Stullen versorgt. Chai schämt sich für ihre ungepflegte Uniform, für ihren Schultag fehlt Geld, Geduld - und vor allem jeder Proviant. Hunger wird ihr ständiger Begleiter. Überall der "Geruch des Kokos-Reises", "indische Erdnußverkäufer", "dunkelrote Wassermelonen mit glänzenden schwarzen Kernen" - Chai versteckt sich in den Pausen; tapfer versucht sie wegzusehen, wegzuriechen, ihren Magen zu vergessen.

Bücher können nähren. Sie hat "den Mund voll langer Worte", in sich "diese geheime Maschine, die Bücher aß, sie ganz verschlang". Weil Chai das Buch Lukas in- und auswendig kann, hat sie bei Schwester Finnigan einen dicken Stein im Brett. Ganz satt wird sie nicht davon. Vor Hunger leckt sie nachts heimlich "den eigenen verschwitzt-salzigen Körper". Und Hunger kann noch hemmungsloser machen: Als ein greiser Opiumraucher eine saftige Guave bietet, läßt sie ein paar Mal seine Hände unters Kleid.

"Hunger" wurde von Peter Ripken für die INTERLIT-Anthologie "Andere Länder - andere Zeiten" erstmals ins Deutsche übersetzt. Die Heldin der Geschichte hat manches mit der Autorin zu tun. Shirley Lim (Jg. 1944) ist chinesischer Abstammung und wuchs noch zur Kolonialzeit in Melaka auf (der von den Holländern gegründete Küstenort im Südwesten der Malaiischen Halbinsel ist heute ein Touristen-Magnet). Sie besuchte eine englischsprachige, römisch-katholische Missionsschule, die von irischen Nonnen geführt wurde. Ein wichtiger Impuls zu schreiben, sagt Lim, kommt aus dieser Zeit: "Ich habe schrecklichen Hunger erlebt, eine Erfahrung, die mich verpflichtet hat zu sprechen".

Was in der Erzählung angedeutet ist, führt Lim in Essays und wissenschaftlichen Studien aus: Wie koloniale Bildungspolitik systematisch die kulturelle Selbstachtung des vielsprachigen, multikulturellen Malaysia ausgehöhlt hat, wie ethnische und kulturelle Verunsicherung zwangsläufig auch die Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit (seit 1957) bestimmten.

Trotzdem: 'Die Nonnen machten ihren Job gut', schreibt Lim in dem Essay "Tongue and Root: Language in Exile". Gut, weil sie ihr die Sprache bei- und nahebrachten, 'die wir gelernt hatten zu fürchten und zu lieben: Englisch'. Gut auch, weil Lim im 'Internationalen Englisch' heute die erste Globalsprache in der Weltgeschichte erkennt, die nicht mehr nur einem Volk, die 'einfach der ganzen Menschheit gehört, so wie Reis, Baumwolle oder Papier'.

Es ist für sie die Sprache der Vernunft, des Säkularen, der Wissenschaft - eine Brücke der Verständigung über Gruppen, Völker, Nationen hinweg. Englisch wurde für Shirley Lim das Medium ihrer Karriere als Schriftstellerin und Wissenschaftlerin. 'Die englische Sprache war nur eine von dreien in meiner Umgebung, Malaiisch und das chinesische Hakka waren die anderen'. Die Zeitumstände und eine persönliche Vorliebe entschieden: "Nicht ich habe die Sprache gewählt; sie hat mich gewählt". Englisch wurde ihre geistige Heimat - und der Grund für ein Leben im amerikanischen Exil.

Shirley Lim geht mit 25 in die USA, setzt ihre Studien in Englischer und Amerikanischer Literatur fort; 1972 heiratet sie einen Amerikaner, Akademiker wie sie; Promotion 1973, seitdem eine glänzende Laufbahn mit Professuren in New York und Kalifornien. Für ihren ersten Gedichtband "Crossing the Peninsula" bekommt sie 1980 den Commonwealth Poetry Prize ("bestes Erstlingswerk"), als erste Asiatin überhaupt. Zu Fachkonferenzen wird Lim weltweit geladen, ob über Postkolonialismus, Frauen-Emanzipation, asiatisch-amerikanische Identität in den USA oder die Literatur in Südostasien. - Freiwilliges Exil?

Eine Formel nur für Zyniker, sagt Lim. Ja, sie kann jederzeit nach Malaysia reisen. Doch von der Mitwirkung an der Entwicklung des Landes ist sie ausgeschlossen, seit die Sprach- und Kulturpolitik rigoros auf Monokultur setzt: auf das Malaiische - viele aus ihrer Generation, in Englisch hochtrainiert, fanden sich auf dem Abstellgleis.

In ihren Gedichten und Geschichten - die ersten hat sie schon 1967 veröffentlicht - sucht Lim das verlorene Land ihrer jungen Jahre und sie zeigt, daß sie "in den USA eine Fremde ist in einem fremden Land". Ein Crossover der Kulturen, Zeugnisse einer Heimatlosigkeit und immensen Reichtums. Zu "Monsoon History" (1994), einer repräsentativen Auswahl der Gedichte, schreibt Prof. Laurel Means: "Lims poetische Vision ist durch ihre universellen Prägungen in keine Richtung hin eingeschränkt: nicht auf die Malaiische Halbinsel, nicht auf das Chinesisch-Amerikanische und auch nicht auf den Kontext der amerikanischen Kultur".

Ihr Stil ist klar, der Ton oft ironisch, die Haltung ungebrochen. Im Erinnern wehrt sich Lim gegen Geringschätzungen, die sie überall erfahren hat: als Mitglied der chinesischen Minderheit in Malaysia, als Asiatin in den USA - und als Frau im Osten wie im Westen.

 

Lebenslauf

Shirley Geok-lin Lim, geb. 1944 in Melaka/Malaysia, chinesischer Abstammung. Besuch einer katholischen Missionsschule irischer Nonnen; Studium: Englische Literatur in Kuala Lumpur (B.A 1967); seit 1969 in den USA, weitere Studien: Englische und Amerikanische Literatur in Massachusetts (Ph.D. 1973); lehrte 1976-90 an der State University of New York. Lebt seit 1990 in Santa Barbara und arbeitet als Professorin für Englisch und Frauen-Forschung an der University of California.

Auszeichnungen

American Book Award 1990 für die Herausgabe von "The Forbidden Stitch: An Asian American Women's Anthology"; Commonwealth Poetry Prize 1980 für "Crossing the Peninsula".

Veröffentlichungen

Seit 1967 in Anthologien, seit 1980 eigene Werke, u.a. vier Gedichtbände, drei Short Stories-Sammlungen, zwei Bücher mit Essays über die englischsprachige Literatur in Südostasien. Gedichte, Short Stories, Essays und wissenschaftliche Beiträge in über 40 Anthologien (u.a. in USA, England, Malaysia, Indien, Australien, China, Hongkong, Philippinen); über 100 Beiträge (Poesie, Prosa, Rezensionen, Essays) für Printmedien in den USA, England und im pazifischen Raum.

Deutsch:

"Hunger" (Short Story, Original 1995), Übers. Peter Ripken, in: "Andere Länder - andere Zeiten" (Anthologie), Hg. Interlit e.V., Marino Verlag, München 1997.

Englisch (Auswahl):

"Two Dreams" (Short Stories), Feminist Press, New York 1997;

"Among the White Moon Faces: An Asian-American Memoir of Homelands", Feminist Press, New York 1996 und Times Books International, Singapore 1996; "Life's Mysteries: The Best of Shirley Lim", Times Books International, Singapur 1995; "Monsoon History: Selected Poems", Skoob Pacifica, London 1994; "Writing Southeast/Asia in English: Against the Grain" (Literaturkritische Essays), Skoob Pacifica, London 1994; "Modern Secrets: New and Selected Poems", Dangaroo Press, Aarhus & London 1989; "No Man's Grove and Other Poems", National University of Singapore English Department Press, Singapur 1985; "Another Country and Other Stories", Times Books International, Singapore 1982; "Crossing the Peninsula and Other Poems", Heinemann, Kuala Lumpur 1980;

Herausgeberin mehrerer Zeitschriften und Anthologien, u.a.: "The Forbidden Stitch: An Asian American Women's Anthology", Calyx, Corvallis 1989.