Githa Hariharan

(Indien)

Autorenporträt, Biographie / Veröffentlichungen

Freitag, 3.10.97, 15 Uhr
Forum 2, Redoutensaal
Theaterplatz, Erlangen

Sonntag, 5.10.97, 20 Uhr
Zeitungscafé in der Stadtbibliothek
Eingang Peter-Vischer-Str., Nürnberg

Dienstag, 7.10.97, 20 Uhr
Evang. Bildungswerk
Südliche Ringstr. 26, Schwabach

 

Im Süden der Lüste

"Ich schaute auf den steifen, kalten Körper herunter, den ich zum ersten Mal nackt sah. Nun schlief sie endlich, war endlich ruhig. In den letzten beiden Monaten hatte ich gelernt, von ihr das Unerwartete zu erwarten. Ich zögerte, falls sie sich doch plötzlich noch einmal aufsetzen sollte, weil ihr eine weitere verbotene Köstlichkeit eingefallen war, die sie noch nicht probiert hatte."

Fast 90 Jahre lang hatte Rukmini auf alles Verbotene verzichtet. Als Angehörige einer hohen Hindu-Kaste ernährte sie sich streng vegetarisch. Ihre lange Witwenschaft brachte sie mit "Anstand" zu, ganz so, wie es sich für eine Ehefrau gehört: demütig, dienstbar, duldsam und treu auch über den Tod hinaus. Rukmini hielt sich stets bedeckt in ihrem unansehnlichen, hellbraunen Sari.

Nur eines konnte irritieren: ihre unbändige Lust am Lachen - als verrate sich hier etwas, das längst schon jeder Normalität spotten wollte.

In der Kurzgeschichte "Was vom Feste übrig blieb" (dt. 1995) erzählt Githa Hariharan, wie sich ein lang gestautes Verlangen Bahn bricht. Zwei Monate vor ihrem Tod will - oder kann - Rukmini nichts mehr unterdrücken. Mit einem Mal lebt sie ihre Gier; hemmungslos, gegen die Normen von Religion und sozialem Stand; unmäßig und rasend fast, als könnte all das Versäumte zuletzt noch eingeholt werden.

So verlangt die Greisin nach all den verbotenen Früchten - nach Obstkuchen mit Brandy und grünen, frittierten Chili-Bondas; nach Hühnern, Ziegen, Knoblauch; nach Coca Cola, rohen Zwiebeln, nach Kuchen mit billig-süßem Zuckerguß vom christlichen Bäcker. Und dann hat Rukmini das Verlangen, wenigsten ganz zum Schluß einmal Frau zu sein - eine schöne Frau, anziehend und begehrenswert: Für den Scheiterhaufen will sie einen neuen Sari, leuchtendrot, mit möglichst breiter Goldkante.

Ratna, ihre Urenkelin, merkt, daß all diese Wünsche existentiell wichtig sind. Sie erfüllt sie, so gut es geht; aus Liebe, aus Respekt, weil sie spürt, daß der Krebs im Hals der Alten ein Geschwür ist, gewachsen aus der Entsagung: "Der Blick in das Innere, in die Eingeweide der Erinnerungen, von denen sie mir nichts erzählt hat, auf den zu Krebs erstarrten Schmerz, steht mir noch bevor." Tabus fordern Verzicht - der größte Verzicht aber, der am teuersten bezahlte, ist der auf Lust.

"Was vom Feste übrig blieb" ist enthalten in dem Sammelband "Die Zeiten haben sich geändert. Frauen in Indien". Genauer wäre: Die Zeiten sind gerade dabei, sich zu ändern - in Indien generell, vor allem aber für und durch die wachsende Mittelschicht, für die Frauen und das Verhältnis der Geschlechter.

Eben davon erzählt Githa Hariharan in ihren Büchern.

Ihr Roman "The Thousand Faces of Night" (1992) stellt die Lebensgeschichten von Frauen aus drei Generationen gegenüber, Tochter, Mutter und Großmutter aus dem südindischen Madras. Da ist die junge Devi, die in den USA studieren konnte und dort mit Dan, einem Schwarzen, erste Erfahrungen in "freier" Liebe macht. Da ist Devis Mutter Sita, eine sittenstrenge, früh verwitwete Hinduistin. Und da ist Mayamma, die Oma; sie wuchs noch im Dorf auf, in einfachen Verhältnissen, und hat von daher eine oft viel konkretere Sicht der Dinge.

Devi ist eine Rebellin der Liebe. Aber sie ist unsicher, ob sie damit auch richtig liegt. Sie nimmt sich ihre Freiheit, läßt der Sehnsucht des Körpers und der Phantasie freien Lauf - und macht dann auf halbem Wege kehrt. Zurück aus den USA fügt sich Devi ohne viel Widerstand dem Heirats-Arrangement der Mutter - und läuft bald darauf ihrem Mann davon, ein "Yuppie", der kaum Zeit und Worte hat, der nur wie üblich auf Nachwuchs größten Wert legt. Doch auch in den Armen eines Musikers, auf den ersten Blick ein toleranter, offener Typ, findet sie nur ein kurzes Glück. Devi kehrt schließlich in ihr Elternhaus zurück. Das Weitere bleibt offen.

Githa Hariharan hat ihren Roman angelegt wie eine Versuchsanordnung, wie ein Labor, in dem der Wert des bekannten Alten und des möglichen Neuen in den Beziehungen überprüft wird. Devi ist dabei die typische Heldin des Übergangs, des Hin und Her, der Unsicherheit und Ungewißheit.

So erzählt das Buch, wie die Bereitschaft der Frauen zur Versagung heute mehr und mehr einem Mut zum Versuch weicht - und zur Versuchung. Versuchung, weil es um den Versuch eines Ausbruchs geht, um ein Herausfinden des Eigenen und ein Suchen nach neuen Formen der Lebensorganisation - und Versuchung, weil mit sozialen Anfechtungen immer zu rechnen ist. Die Tabus bröckeln, doch ist ihre Macht längst nicht gebrochen.

Dies Wissen um die Gefahren einer Ausgrenzung und Ächtung hemmt Devi ebenso wie die Beharrungskräfte der Tradition in ihr selbst. Es sind die alten Bilder vom Frausein, die weiter wirken, Geschichten aus dem kollektiven Gedächtnis, die das Handeln oft wie selbstverständlich leiten - und eben deshalb vielfach unbemerkt bleiben.

Das Projekt der Liebe braucht Zeit, im Süden wie im Norden.

In "Thousand Faces of Night" greift Hariharan die Mythen der indischen Überlieferung auf, Frauen- und Männerfiguren aus den großen Sankrit-Epen Mahabharata und Ramayana. Sie sollen Devi (und den LeserInnen) helfen, ihre innere Landschaft klarer zu sehen. Und sie sollen Hilfe bieten für eine Neuorientierung.

"Ein Mythos wird nur dann fruchtbar, wenn er neu interpretiert wird, wenn man ihn aus dem Blickwinkel unseres Lebens, unserer Zeit betrachtet", sagt Hariharan. Und: "Männer sind genauso Opfer einer ganzen Mythologie ... von Haltungen und Ideen darüber, wie Männer und Frauen zusammenleben sollen." Die neuen Mythen erzählt sie nicht als Frauen-Schriftstellerin: "Schriftstellerin ist genug."

Githa Hariharan hat nach Jahren als Lektorin zu schreiben begonnen. Relativ spät, sie war 38, erschien mit "The Thousand Faces of Night" ihr erstes Werk. Es gewann auf Anhieb den Commonwealth-Preis 1993 für das beste Erstlingswerk im gesamten Commonwealth. Ein Band mit Short Stories und ein zweiter Roman folgten schnell.

Die "Times of India" schreibt: "Hariharan erzählt in einer sonnigen und ausgewogenen Sprache, die nichts verbirgt, die alles zeigt ... Nichts ist im Plot versteckt: Alle Aussagen schauen dich an wie Kieselsteine am Grund eines tiefen, klaren Baches".

 

Lebenslauf

Githa Hariharan, geb. 1954 im südindischen Coimbatore (Tamil Nadu). Studium der englischen Literatur in Manila und Bombay (B.A. 1974); dann Journalismus-Studium an der Fairfield University, Connecticut (USA) und Mitarbeit bei einem Rundfunksender in New York; ab 1979 mehrere Jahre Lektorin in einem großen Verlag (Orient Longman) in Neu Delhi. Lebt heute dort als Schriftstellerin, Kritikerin und freie Lektorin mit ihrem Mann und zwei Söhnen.

Auszeichnungen

Commonwealth Writers Prize 1993 für das beste Erstlingswerk des Commonwealth.

Veröffentlichungen

Seit den 80ern zahlreiche Short Stories in Zeitschriften und Anthologien (u.a. in England, Australien), in den 90ern zwei Romane und ein Kurzgeschichten-Band; Übersetzungen ihrer Prosa ins Französische, Spanische, Holländische und Deutsche; Lektorate sozialwissenschaftlicher und literarischer Texte für Verlage und UN-Organisationen, u.a. Herausgeberin des Bandes "A Southern Harvest" (1993) - ins Englische übersetzte Erzählungen aus vier großen Sprachen Südindiens.

Deutsch: "Was vom Feste übrig blieb" (Erzählung) in der Anthologie "Die Zeiten haben sich geändert. Frauen in Indien", Urvashi Butalia und Ritu Menon (Hg.), Übers. Susanne Aeckerle, dtv, München 1995.

Englisch (Auswahl):

"The Ghosts of Vasu Master" (Roman), Viking Penguin India, New Delhi 1994;

"The Art of Dying and Other Stories", (Short Stories), Penguin India, New Delhi 1993;

"The Thousand Faces of Night", (Roman), Penguin India, New Delhi 1992.