Carlos Franz

(Chile)

Autorenporträt, Biographie / Veröffentlichungen

Freitag, 3.10.97, 20 Uhr
Kulturladen Nord
Wurzelbauerstr. 29/35, Nürnberg

Sonntag, 5.10.97, 15 Uhr
Forum 6, Redoutensaal
Theaterplatz, Erlangen

 

Auszeit im Paradies

"Wir überfliegen Flüsse ohne Bestimmungsort, die in großen kupferfarbenen Schleifen einem runden, unberührten Horizont entgegenströmen ... Und plötzlich, durch ein Loch in der Wetterwand, ist er da. Der Flußhafen, eine weißliche Schuppe auf der Echsenhaut des Dschungels. Die vollkommen unzugängliche Stadt, es sei denn, man kommt aus der Luft. Und durch den Amazonas, der sie träge, mit gesenktem Haupt hofiert, wälzt sich der lehmige Gletscher, schiebt sich kraftvoll zwischen die mächtigen Schenkel des Urwalds."

Das alle Horizonte füllende Panorama Amazoniens, dann ein Fleck, der größer wird: Iquitos, eingenistet im peruanischen Regenwald, drei Breitengrade südlich vom Äquator. Der Amazonas ist hier schon gewaltig, doch Tausende von Kilometern sein Weg noch zum Atlantik.

Schwebend, ohne Hast nähert sich Carlos Franz' Roman seinem Schauplatz: "El lugar donde estuvo el Paraíso" (1996) - Der Ort, an dem sich das Paradies befand. Die Ruhe ist trügerisch. Paradies, Stillstand in üppigem Wohlleben? Nur in irgendeiner Vergangenheit der Phantasie, gespeist aus Bibel, Tropen- und Schatzsucher-Träumen. Von dieser Höhe setzt die Geschichte zu einem Gleitflug durch die Hölle der Menschen an: durch Täuschungen und Enttäuschungen, durch Drogenhandel, Diktatur, Guerilla und Konflikte um Pflichtgefühl, Leidenschaft und Gewissen - die Außenwelt der "grünen Hölle", ein Spiegelbild des Innersten.

Langsam führt Carlos Franz nach unten, nach innen. Eine Frauenstimme erzählt. In Iquitos wartet ein Konsul: "Es ist dieser ältere einsame Mann, den wir stets rauchend auf den Bahnsteigen finden" - "ein berufsmäßiger Abschiednehmer". Seiten später erfährt man, daß die Erzählerin Anna heißt, fast 19 ist und den Konsul besser kennt, als der erste "fremde" Blick verrät. Er ist ihr Vater, sie sieht ihn regelmäßig in den Ferien. In Prag, im Orient, wo immer er gerade Diplomaten-Dienst tut.

Eine glorreiche Mission ist es nicht. Der Konsul vertritt ein schmächtiges Land (es ist namenlos und von Militärs beherrscht, könnte Chile sein oder Argentinien in den 70ern). Das Budget ist spärlich. Anna erinnert sich, wie ihr Vater "in Unterhosen über das Bett gebeugt, eigenhändig die Flagge seines Landes bügelte". Rückblicke zeigen eine Welt des bloßen Scheins - ein leeres, hohlgewordenes Leben. Illusionslos hatte der Konsul den Totschlag seiner Zeit praktiziert.

In Iquitos residiert er fast stilvoll. Wände mit Keramikfliesen, griechische Zierbänder, schmiedeeiserne Balkone zum Amazonas hin - "während der Kautschukzeit war dies der Monopolpalast". Damals, zur Zeit der Fitzcarraldos und bis in die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts, als aus den Kautschukbäumen noch weißes Gold floß. Latex aus der wilden Selva brachte Iquitos zum Blühen. Paradies der Glücksritter. Nun läßt die schwere nasse Luft der Tropen lange schon den Rost blühen.

Und doch ist etwas vom Mythos noch lebendig. Ausgerechnet an einem Platz, wo der Diplomatische Dienst nur aufgrund irgendeiner bürokratischen Amnesie noch Flagge zeigt, sucht der Konsul ein spätes Glück. Nach dem Scheitern der Ehe mit Leyla, nach all den Jahren voll Überdruß in einer trostlosen Pflicht scheint er zu sich zu finden. Er hat kleine Notwendigkeiten geschaffen, Freunde gewonnen, hat ein Haus gekauft für sich und Julia, eine brünette, halbindianische Schönheit. Der Konsul meint es mit der neuen Liebe ernst.

All das verstört Anna. Die Verlorenheit ihres Vaters hat sie geteilt und genossen. Sie war wie ein Raum, in dem sie sich beide treffen konnten: "Überall verharrten unsere Gedanken einen Augenblick in weißer Leere". Ihre Eifersucht deutet auf den späteren Verlust - in Iquitos wird sie den Vater ein letztes Mal sehen.

Aus einer Distanz von zehn Jahren erzählt Anna, wie der Konsul versucht, seine Lebensuhr zurückzudrehen. Zurück auf eine Zeit, die er längst verloren hat. Seine Katastrophe entzieht sich ihrer Rekonstruktion mehr, als daß sie sich offenbart: Was findet ihr Vater an Enrico, warum bietet er diesem Hasardeur aus der Heimat Schutz? Ist Enrico ein politisch Verfolgter, Drogenhändler, Freiheitskämpfer? Warum arbeitet der Konsul gegen den Polizeipräfekten Gonçalves? Was treibt Rubiroza, einen alten Konkurrenten aus dem Auswärtigen Amt, nach Iquitos?

Blendungen, Irritationen, flüchtige Motive - im Dampfbad von Iquitos bleibt alles wie "hinter einer beschlagenen Fensterscheibe" (Clarín, Buenos Aires).

Auszüge von "El lugar ..." wurden für die INTERLIT-Anthologie "Andere Länder - andere Zeiten" erstmals ins Deutsche übersetzt, eine deutsche Ausgabe des Romans ist bei Kiepenheuer & Witsch geplant. Carlos Franz erhielt für das Buch - seinen zweiten Roman - den angesehenen argentinischen Preis "Planeta de Novela 1996". Er wurde in ganz Südamerika gefeiert: "Kritiker aus Argentinien, Chile, Uruguay vergleichen den Roman mit "Unter dem Vulkan" von Malcom Lowry, mit "Der Honorarkonsul" von Graham Greene" oder Paul Bowles' "Himmel über der Wüste" und betonen übereinstimmend seine hohe literarische Qualität".

Als Sohn eines chilenischen Diplomaten verbrachte Carlos Franz seine jungen Jahre überwiegend in der Schweiz und Argentinien, bevor er nach Chile zurückkehrte und in der Hauptstadt Santiago Jura und Soziologie studierte. Ansehen erwarb er sich als Literaturkritiker bei wichtigen Zeitungen Lateinamerikas. Seit 1984 veröffentlicht er eigene Erzählungen. Schon Franz' Roman-Debüt "Santiago Cero" war ein großer Erfolg in Chile und Gewinner beim Vierten Lateinamerikanischen Romanwettbewerb in Peru 1988. Perspektivenreich und in geschliffener Prosa erzählt das Buch von der jüngeren Geschichte Chiles. Carlos Franz ist eines der großen lateinamerikanischen Erzähltalente der neuen Generation.

 

Lebenslauf

Carlos Franz, geb. 1959 in der Schweiz als Sohn eines chilenischen Diplomaten. Studium: Jura und Soziologie in Chile, 1983 Anwalts-Diplom; Schreib-Werkstatt u.a. bei José Donoso, 1988-89 "Writer in Residence" an der Georgetown University in Washington DC/USA; Literaturkritiker für wichtige Zeitungen in Chile, Argentinien, Uruguay, Mexiko. Seit 1991 Literatur-Dozent an Universitäten in Santiago de Chile, z. Z. an der Universidad Diego Portales.

Auszeichnungen

Erster Preis beim Vierten Lateinamerikanischen Romanwettbewerb 1988 (Lima/Peru) für "Santiago Cero"; argentinischer Literaturpreis Premio Planeta de Novela 1996 für seinen zweiten Roman.

Veröffentlichungen

Seit 1984 Erzählungen in zahlreichen Anthologien mit Beiträgen junger lateinamerikanischer Autoren, dann zwei Romane (1989, 1996). Für die INTERLIT-Anthologie "Andere Länder - andere Zeiten" erstmals ins Deutsche übersetzt.

Deutsch:

"Der Ort, an dem sich das Paradies befand" (Romanauszug, Original 1996), Übers. Willi Zurbrüggen, in: "Andere Länder - andere Zeiten" (Anthologie), Hg. Interlit e.V., Marino Verlag, München 1997.

Spanisch:

Romane:

"El lugar donde estuvo el Paraíso", Ed. Planeta, Buenos Aires 1996;

"Santiago Cero" (Roman), Ed. Nuevo Extremo, Santiago de Chile 1989;

Erzählungen in folgenden Anthologien:

"Los pecados capitales", Ed. Grijalbo, Santiago de Chile 1993; "Andar con cuentos", Ed. Mosquito, Santiago 1991; "Contando el cuento", Ed. Sin Fronteras, Santiago 1987; "Antología del cuento Chileno", Ed. Alpha, Santiago 1985; "Encuentro. Escritores chilenos de hoy", Ed. Bruguera, Santiago 1984.