Lindsey Collen

(Südafrika / Mauritius)

Autorenporträt, Biographie / Veröffentlichungen

Freitag, 3.10.97, 11 Uhr
Loni-Übler-Haus
Marthastr. 60, Nürnberg

Samstag, 4.10.97, 10 Uhr
Forum 3, Redoutensaal
Theaterplatz, Erlangen

 

Die Erinnerung der Körper

"Auf dieser Fahrt fühlte sie sich selbst immer stärker kolonisiert. ... Sie fühlte ihre Augenbrauen schmelzen und sich auflösen. Sie strich sich über die Stirn. Sie fühlte ihre Füße klumpen. Eine schwere, ungeliebte Schwangerschaft machte sich in ihrem unwilligen Bauch breit. Sie starrte ins Leere und kontrollierte schnell, ob auch bei ihr Speichel oder Rotz tropften."

Sita, die Hauptfigur in Lindsey Collens Roman "Sita und die Gewalt", sitzt in einem Bus und fährt an der Küste der Insel Réunion entlang - noch immer ein Stück Frankreich mitten im Indischen Ozean, weit vor Madagaskar -, als sich die Schatten der Vergangenheit in ihr schlagartig verdichten.

Mit einem Mal ergreift Sita eine Panik, die sie so nicht an sich kennt. Für sich und für andere war sie immer das, was heute gern als "starke Frau" bezeichnet wird: furchtlos, selbstsicher, kämpferisch. Zuhause in Mauritius, von Réunion knapp 200 Kilometer weiter übers Meer, wurde sie nach der Unabhängigkeit im Jahr 1968 zu einer Art lebenden Legende: engagiert für die Gleichberechtigung der Frauen, Anwältin der Notleidenden und Bedrängten - und jetzt ist sie plötzlich selbst auf fremde Hilfe angewiesen.

An diesem Tag im Jahr 1987 ist Sita nach fünf Jahren wieder einmal auf Réunion. Eine Stippvisite nur, ihr Mann Dharma kommt zu Vorträgen auf Einladung der Unabhängigkeitsbewegung; und sie selbst für ein kurzes Treffen in Sachen Vorschulerziehung. Doch auf dem Weg dorthin bricht Sitas Körper ein Schweigen, das ihre "normale" Erinnerung mehr als fünf Jahre lang vollständig bewahrt hatte: Wellen des Ekels und Entsetzens ergreifen sie - ausgelöst allein durch die Rückkehr an den Ort Sendeni.

Allmählich wird sich zeigen: Sendeni ist der Ort, an dem Sita Opfer einer Vergewaltigung wurde.

Lindsey Collen erzählt in "Sita und die Gewalt" die Geschichte einer Vergewaltigung. Zu allererst aber erzählt sie von der Wiederentdeckung der Gewalttat durch das Opfer selbst. Erzählt von einer Beschädigung, die sehr tief geht, die eine Überdosis an Verletzung bedeutet, so daß sie gleichsam eingekapselt und verborgen werden muß, weil ihr Gift sonst zu stark wäre. Und sie erzählt davon, daß es zum Vergessen-Müssen oft kaum eine Alternative gibt, besonders, wenn eine Verständigung über schwierige Gefühlslagen unter den nächststehenden Lebenspartnern nicht gelingt - und daß gerade dadurch Wunden wuchern können, die die Zeit nicht und nicht von selbst heilt.

So erzählt "Sita und die Gewalt" auch vom geheimen Zerstörungswerk der Gewalt: Es vollzieht sich mit und nach der Tat, unausweichlich, unbeirrbar - und lange unbemerkt in der Tiefe des Inneren. Bis es sich in heftigen Anfällen zu erkennen gibt, bis der Körper scheinbar verrückt spielt - und dabei doch nur die Erinnerung zurechtrückt.

Und doch macht das Buch Hoffnung, ist letztlich die Geschichte einer Genesung: "... sie [Sita] heilt sich im Verlaufe des Romans auf höchst komplexe und schwierige Weise. Heilung ist nämlich nicht einfach eine Frage der Zeit oder des Hinter-sich-Lassens. Sie ist nur möglich durch quälendes "Eintauchen" in sich selbst, in eine tiefere Bewußtseinsschicht des unzerstörbaren Kerns ihres Wesens, das sie, auch nachdem ihrem Körper Gewalt angetan wurde, zurückerobern kann." (Jean Claude Bibi)

Lindsey Collen verknüpft diese Geschichten von der Vergewaltigung einer einzelnen Frau mit der "großen" Geschichte der Gewalt im Indischen Ozean und in Afrika: mit der fortwirkenden - und in Réunion z.B. sehr konkret andauernden - Unterdrückung und Demütigung durch die Kolonialmächte. "Habe ich in meinen Körper eindringen lassen, was hier alle seit zweihundert Jahren schon spüren?", fragt sich Sita. Dabei wird auf raffinierte Weise ein Geflecht von Beziehungen hergestellt - mit Stoffen aus der Kolonialgeschichte und aus der Volkserzählung, mit moderner Roman-Technik und mit Hindu-Mythen über die Gefährdung von Frauen.

Für "Sita und die Gewalt" bekam Lindsey Collen den Commonwealth-Preis: bester Roman aus Afrika 1994. Die Jury betonte, daß hier "Vergewaltigung ein durchaus komplexes und zugleich subtiles Symbol für Sklaverei, Zwangsarbeit und Kolonialismus wird".

Das Buch erschien in England (1995), Holland (1996) und Deutschland (1997) - nur in Mauritius, wo sich das Erzählte in großen Teilen ereignet und wo die Autorin seit 1974 lebt, ist es offiziell nicht zu haben. Kaum daß es dort Ende 1993 - im Original "The Rape of Sita" - in den Buchhandlungen war, traf es der Bann des Premierministers Aneerood Jugnauth: Es sei eine "Ungeheuerlichkeit gegen die öffentliche und religiöse Moral" - in Mauritius strafbar nach § 206 Strafgesetzbuch. Gleichzeitig wurde Lindsey Collen von Hindu-Fundamentalisten massiv an Leib und Leben bedroht (ca. 70 % der Mauritier sind indischer Abstammung, ca. 53 % Hindus). Die Anklage wie bei Salman Rushdie: Blasphemie; der Kurzschluß: die Hindu-Göttin "Sita", ein Sinnbild für die unangreifbare Würde der Frau, werde entehrt.

Den Beweis für die "Ungeheuerlichkeit" ist die mauritische Regierung bis heute schuldig geblieben. Anfangs versprach der Bann über "Sita" Politikern einen Popularitätsgewinn auf die billige Art, nun droht Gesichtsverlust. Strafprozeß ja oder nein, keine Auskunft - die Regierung in Mauritius mauert. Immerhin: der Commonwealth-Preis, die Unterstützung der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch und Proteste von Frauengruppen aus aller Welt zeigen Wirkung.

Den Schwebezustand aber nimmt Lindsey Collen nicht hin. Und im Kämpfen sie ist geübt: Seit sie mit 20 als Studentenführerin gegen die Apartheid in Südafrika auftrat; als langjährige Journalistin für das oppositionelle Polit-Magazin "Revi Lalit"; und heute als treibende Kraft in Frauengruppen, Gewerkschaft, Obdachlosen-Initiative und Alphabetisierungs-Kampagnen in Mauritius.

 

Lebenslauf

Lindsey Collen, geb. 1948 in der Transkei (Südafrika). Literatur- und Jura-Studium an der University of Witwatersrand (Südafrika), Soziologie-Studium an der London School of Economics; vielfältige Jobs und politische Aktivitäten in Südafrika, London, im amerikanischen Bundesstaat New York und auf den Seychellen. Verheiratet mit Ram Seegobin (Mauritier); lebt seit 1974 in Bambous auf Mauritius und unterrichtet Lesen und Schreiben.

Auszeichnungen

Commonwealth Writers Prize für den besten Roman aus Afrika im Jahr 1994; Helman-Hammett Award for Free Expression 1995.

Veröffentlichungen

Seit 1990 eine Reihe von Short Stories, Gedichten, Song-Texten und vier Romane; sei 1976 Mit-Herausgeberin und regelmäßige Redakteurin des mauritischen Polit-Magazins "Revi Lalit" (englisch und kreolisch); Übersetzungen ins Deutsche und Holländische.

Deutsch: "Sita und die Gewalt" (Roman), Übers. Ludwig Laher, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1997; dort angekündigt: dt. Ausgabe des Romans "There is a Tide".

Englisch und Kreolisch (Auswahl):

"Misyon Garson" (Roman auf kreolisch), Ledikasyon pu Travayer, Mauritius 1996;

"Getting Rid of It" (Roman), Mauritius 1997;

"The Rape of Sita" (Roman), Heinemann, Oxford 1995 (zuerst: Mauritius 1993);

"There is a Tide" (Roman), Ledikasyon pu Travayer, Mauritius 1990;

Short Stories in diversen Anthologien und Zeitschriften, u.a. "The Sacrifice" in "Mauritian Voices", Flambard, England 1996 und "Intruder" in "Au tour des femmes", Imedya, Mauritius 1995.