Syl Cheney-Coker

(Sierra Leone / z. Z. im Exil)

Autorenporträt, Biographie / Veröffentlichungen

Freitag, 3.10.97, 10 Uhr
Forum 1, Redoutensaal
Theaterplatz, Erlangen

Dienstag, 7.10.97, 20 Uhr
Rathaus, Sitzungssaal
Marktplatz 11, Herzogenaurach

 

Ostwärts, heim nach Afrika!

"Schon einhundert Jahre vorher hatte der magische Spiegel des Nubiers Suleiman aus Khartum ihr Erscheinen verkündet. Als sie an jenem Morgen im Mai auf Deck der Belmont stand, die in einem englischen Hafen vor Anker lag, bot Jeanette Cromantine den Anblick einer Frau mit geheimnisvoller Vergangenheit ... und starrte auf die Weite des Meeres, als ob in seinem bläulichgrauen Widerschein die Rätsel ihrer Vergangenheit geschrieben stünden. Mit ihren zwanzig Jahren stand sie noch am Anfang des Lebens. Dennoch umwehte Jeanette Cromantine eine Aura, als ob sie einst einem Mann als Geliebte angehört hätte, der den Sinnesfreuden des Orients verfallen war."

In Syl Cheney-Cokers Roman "Der Nubier" (dt. 1996) ist Jeanette Cromantine eine der ersten, die zurückkehren in ihre Heimat - an einen Ort, den sie nur vom Hörensagen kennt, der deshalb wie das Land einer Sage im Ungefähren liegt. England ist nur Zwischenstopp, ein Umweg dorthin, wo "die Nabelschnur der Eltern vergraben ist": irgendwo im Westen Afrikas - wo genau, dies wird (und muß) für sie und alle, die bald folgen sollen, immer ein Rätsel bleiben.

Jeanette Cromantine kommt aus der Neuen Welt. Sie ist freigelassen aus der Sklaverei, hat die Schinderei auf den Baumwollfeldern von Virginia und Georgia und den Unabhängigkeitskrieg der Kolonien überlebt. Als die Briten geschlagen sind, lassen sie - als Dank auch für Verdienste im Kampf - manche Afrikaner ziehen. Manche zieht es übers Meer nach Osten, zurück in die Länder, aus denen ihre Leute kamen. So kreuzen sich auf dem Atlantik die Wege der Generationen: der Kurs der brutal Verschleppten mit dem ihrer Nachkommen. Und an der Westküste Afrikas kann eine neue Geschichte beginnen.

Von dieser Geschichte erzählt Syl Cheney-Coker. Er selbst nennt sich ein "Produkt" davon: Er ist geboren in Freetown/Sierra Leone (1787 als erster Ort für befreite Sklaven gegründet), ist Kreole und stammt direkt von Rückkehrern ab. Cheney-Coker hatte, anders als die meisten im Land, gute Chancen auf Bildung (in Sierra Leone sind fast 80 % Analphabeten), studierte Literatur und Journalismus in den USA. Mit dem Roman "Der Nubier" gibt er seinem Land und der gesamten Region Westafrika viel von dem Wissen zurück, das er sich erworben hat: seine Kenntnisse um Herkunft, Traditionen, kulturelle Vielfalt, um Höhen und Tiefen der Entwicklung.

Dabei verdichtet Cheney-Coker viele Geschichten, mal mehr entlang der sog. Fakten - und mal weniger. Malagueta z.B., der Ort, an dem Jeanette Cromantine und die ersten Siedler Fuß fassen, ist auf keiner Landkarte zu finden - der Name steht für etwas Größeres, für Westafrika genauso wie für das Ungewisse des eigenen Ursprungs. Oder die Chronik der Ereignisse: Die 350 im Buch erzählten Jahre entsprechen kaum mehr als 200 Jahren der "offiziellen" Geschichte. Oder die Figur des Nubiers Suleiman (auch: Alusine Dunbar): ein Unsterblicher, ein Magier und Seher, dessen gebrochene Hoden wie ein kosmischer Spiegel des Lebens immer wieder die Ankunft neuer - in ihrer Wirkung altbekannter - Zeiten der Unterdrückung zeigen.

In den Grundzügen aber ist die Historie immer gegenwärtig. Das Buch erzählt von den Irrwegen der Sklaverei zwischen Sahara und Brasilien, zwischen Nordamerika und Westafrika; es erzählt vom Freiheitsdrang der schwarzen Pioniere, von Fleiß, Mühe und Beharrlichkeit beim Aufbau ihrer neuen Existenz in Afrika, aber auch von den bis heute spürbaren Konflikten zwischen den "echten" Einheimischen und den "fremden" Kreolen; es erzählt vom Rollback der englischen Kolonialmacht mit Christianisierung und westlicher Bildung, von der Unterwanderung der Wirtschaft durch skrupellose Geschäftemacher und Glücksritter im Diamanten-Fieber bis hin zur weitreichenden Landenteignung für exklusive Clubs ("Afrikaner und Hunde verboten").

Und der Roman erzählt vom hemmungslosen Ausverkauf Westafrikas seit der Unabhängigkeit (Sierra Leone z.B. seit 1961) durch schwarze Gewaltherrscher, von der Verseuchung der Natur in Allianz mit Politikern und Wirtschaftsganoven der Industrieländer, von der unbarmherzigen Ausplünderung des Landes und seiner Bewohner. Nirgendwo sind Menschen heute ärmer, hungriger, chancenloser, obwohl die Ressourcen für alle reichen könnten. So ist das Elend des Landes vor allem das moralische Elend seiner "Eliten".

Bei all dem ist "Der Nubier" witzig, sinnlich, lebensprall - im Kern eine vielstimmig erzählte, weit ausgreifende Familien-Chronik, angefüllt mit dem Zauber der Landschaften und den Stoffen afrikanischer, islamischer und europäisch-amerikanischer Kultur.

Nach drei Gedichtbänden ist "Der Nubier" Cheney-Cokers erster Roman. Er kam 1990 in England heraus (im Original: "The last Harmattan of Alusine Dunbar"), im Jahr 1991 wurde er mit dem Commonwealth-Preis für den besten Roman aus Afrika ausgezeichnet.

Die internationale Kritik betonte das Neue des Werks: "... es gibt in der gesamten afrikanischen Literatur nichts annähernd Vergleichbares" (Peter Nazareth). Cheney-Coker selbst erklärt, er habe sein Buch ganz bewußt anders gemacht: gegen die Regeln eines akademischen Dogmas in Afrika, das nur gelten lasse, was politisch oder soziologisch "pur" ist. Den Vergleich mit dem sog. Magischen Realismus eines García Márquez akzeptiert er nicht: "Der Roman ist aus der Struktur der Welt heraus geschrieben, in der ich lebe ..., mit Lateinamerika hat er rein gar nichts zu tun".

Er ist geschrieben aus der Lebenswelt heraus - und für Westafrika. "Der Nubier" ist der erste sierraleonische Roman von Gewicht. Cheney-Coker sagt, er habe darin die Leistungen der Pioniere "feiern" wollen. So ist das Buch auch eine Art Heldenlied, verfaßt zur Selbstvergewisserung von Nationen - um sich zu finden, um Kräfte zu sammeln und sich aufzurichten gegen die Misere.

"Black Skin and White Masks" - wer bin ich, welche Stimme habe ich? Auch viele Gedichte Cheney-Cokers sprechen von der Not einer Selbstbestimmung, von den Problemen damit und von ihrer Notwendigkeit - für den einzelnen genauso wie für die Gemeinschaft. Die Bilder sind oft düster, doch die Hoffnung lebt: "The passover will come, the night that widens the fjord / until then, you suffer, you march you wait" - Der Auszug aus Ägypten wird kommen, die Nacht, in der sich das Meer öffnet, / bis dahin wirst du leiden, wirst unterwegs sein, wirst warten.

 

Lebenslauf

Syl Cheney-Coker, geb. 1945 in Freetown (Sierra Leone). Literatur- und Journalismus-Studium in den USA an den Universitäten von Oregon und Wisconsin (1967-72); Gastprofessor für Literatur an der University of the Philippines (1975-77), dann an der Uni in Maiduguri (N-Nigeria). Writer-in-Residence an der University of Iowa (USA) 1988; Journalist und Herausgeber der Zeitschrift "The Vanguard". Lebt als Schriftsteller in Freetown, seit Juni 1997 vorübergehend im Exil.

Auszeichnungen

Commonwealth Writers Prize für den besten Roman aus Afrika im Jahr 1991; Commonwealth Short Story Prize 1996.

Veröffentlichungen

Seit den 70ern drei Gedichtbände, Short Stories und ein Roman; Gründer (1987), Redakteur und Herausgeber der sierraleonischen 2-Wochen-Zeitschrift "The Vanguard"; mit Gedichten und anderen Texten vertreten in vielen Anthologien und Zeitschriften in Afrika, Europa und in den USA.

Deutsch: "Der Nubier" (Roman, Original 1990), Übers. Thomas Brückner, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1996.

Englisch:

"In the Silence of Memory" (Roman) in Vorbereitung; "The last Harmattan of Alusine Dunbar" (Roman), Heinemann, Oxford 1990; "The Blood in the Desert's Eyes" (Gedichte), Heinemann, Oxford 1990; "The Graveyard also has Teeth" (Gedichte), Heinemann, London 1980; "Concerto for an Exile" (Gedichte), Heinemann, London 1973 und 1980.