Mohammed Barrada
(Marokko)
Autorenporträt, Biographie / Veröffentlichungen
Samstag, 4.10.97, 15 Uhr
Forum 4, Redoutensaal
Theaterplatz, Erlangen
Das Spiel des Erinnerns und Vergessens
"Eingehüllt in eine Dschallabija, das runde freundliche
Gesicht von einem Schleier eingerahmt, geht sie durch die Gassen, in denen
Licht und Schatten miteinander spielen. Ihr Schritt ist langsam. Interessiert
verfolgt sie das laute Treiben um sie herum. Trifft sie jemanden, den sie
kennt - gleichgültig, ob Frau oder Mann -, bleibt sie stehen und erkundigt
sich nach dem Befinden. Das braucht sie einfach. Auf diese Weise hält
sie Kontakt zur Außenwelt, kann ihre Neugier stillen und Bekanntschaften
aufrechterhalten. Es ist eine Art Gesellschaftsspiel, an dem die ganze Altstadt
von Fes teilnimmt."
Eine Frau in Marokko. Außerhalb des Hauses trägt sie Schleier,
tut, was die Tradition verlangt. Es gibt hier eine Welt der Männer,
in die Frauen keinen Zutritt haben. Es gibt eine familiäre Welt, in
der Frauen unter sich bleiben.
Und es gibt Zwischenwelten. Im öffentlichen Raum der Medina von
Fes halten Frauen ihr Gesicht bedeckt - für die Kommunikation, auch
unter den Geschlechtern, sind sie "unerläßlich wie das
Salz in der Suppe".
In seinem Roman "Lu'bat al-nisyân" (Das Spiel
des Vergessens - 1987) erzählt Mohammed Barrada vom Alltag einer Familie
in Fes und Rabat. Die Sippe ist weit verzweigt, ihre Geschichten
spielen zwischen den späten 30ern und den frühen 70ern. Ungefähr
nach der Hälfte der erzählten Zeit, 1956, endet das französische
Protektorat, Marokko wird unabhängiges Königreich. Die politischen
Spannungen, die gesellschaftlichen Veränderungen dieser Jahre sind
greifbar. Sie haben Einfluß auf Episoden und Charaktere des Familienlebens;
auf manche mehr, auf andere weniger.
Viele Stimmen erzählen, viele "Ichs" erinnern sich. Einer
der Wortführer ist Hadi. Er gibt sich als Urheber der
Familienchronik aus. Nur ist er sich seiner Worte nicht so sicher. "Erster
Entwurf", "Zweiter Entwurf", "Und das ist nun der Anfang"
- gleich zu Beginn unternimmt er drei Anläufe, seine Mutter zu beschreiben:
"Über die Mutter zu sprechen, erscheint immer schwierig".
Nicht nur über die Mutter. Jedes Erzählen kann sich irren, verirren:
"Es kann eine Sackgasse sein, falls es nicht ein Ausweg ist ...".
Aller Anfang ist schwer. Und entscheidend. Schon im Ansatz trifft man Entscheidungen
über das, was bleibt - und was vergessen bleibt.
Zwischen allen Zweifeln - "jede Mutter ist so vieles auf einmal"
- entsteht ein liebevolles Bild. Die Mutter ist Oase in der Wüste
und breiter Schatten unter der Sonne, sie ist Zuflucht, Verständnis
und Geborgenheit. Es ist eine Mutter, die ihre traditionelle Rolle in der
islamisch geprägten Gesellschaft akzeptiert und erfüllt, die in
der Familie für Ausgleich und Zusammenhalt sorgt und in der Verbundenheit
mit anderen Frauen ihre besondere Würde wahrt. Für Hadi ist sie
ein immerwährender Segen, gegenwärtig über den Tod hinaus:
"ihre Stimme ist überall zu hören".
Eine Frau ohne Stimme ist Hadis Schwester Nadschija. Ihr Mann
ist streng, strenggläubig. Traditionsgemäß hat sie ihm viele
Kinder geboren, ihr Los trägt sie mit Fassung. Ohne Klagen, ohne Lachen
- nur sprachlos ist es zu ertragen. Hadi leiht Nadschija seine Stimme: "
.. nun verwandelt sie sich vor meinen Augen in ein menschliches Wesen, in
ein Wesen, das reden kann, das eigene Beobachtungen hat und Meinungen über
die Menschen und die Welt ... sie sprach und ich hörte ihr verwundert
zu". Das Erzählen hat seine Tücken - doch, vor allem
anderen, ist es der Schlüssel zur Menschlichkeit.
Die Probleme allen Erzählens sind zugleich dessen Thema. Barradas
Kunstgriff: eine Art Über-Erzähler. Zwanghaft fast meldet er sich
zu Wort, wirbt beim Leser um Sympathie und Glaubwürdigkeit, ergänzt,
bessert nach, stellt richtig. Sein Verhältnis zu Hadi ist gespannt.
Als notorischer Besserwisser korrigiert er dessen Erinnerung, allerlei Kompromittierendes
weiß er zu berichten - und schließt den eigenen Mißbrauch
nicht aus: "Wer weiß? Vielleicht benutzt mich der Autor nur
in einem größeren Spiel ..." Mißtrauen kann unbegrenzt
sein. Oder, umgekehrt: Geschichten brauchen einen Vorschuß an Vertrauen.
Barrada zeigt, daß jedes Schreiben von Geschichten Geschichte schreibt,
festschreibt, mit Wörtern, die führen, verführen oder irreführen.
Etwas anderes als Sprache haben wir dafür nicht. Wir erzählen,
und das ist gut, notwendig. Und klug ist es, den kleinen und großen
Historien zu mißtrauen.
Mohammed Barradas Buch erschien 1987 im arabischen Original, Übersetzungen
ins Französische, Spanische folgten. Auszüge übersetzte Kristina
Stock für die Lesungen bei INTERLIT 4 erstmals ins Deutsche. 1997 kam
unter dem Titel "The Game of Forgetting" die englische
Ausgabe heraus. In der Londoner Times schreibt Katharine Elliott: "Es
entsteht auch das Panorama eines Landes, das in Entwicklung begriffen ist.
Durch sein mehrstimmiges Erzählen kann Barrada vieles zur Debatte stellen:
die Kämpfe eines Volkes für seine Unabhängigkeit; den Zusammenprall
von Traditionalisten und Modernisierern; den Platz des Islam in einer mehr
und mehr verwestlichten Gesellschaft; die Verwahrlosung derer, die als ehemalige
Freiheitskämpfer an die Macht kamen".
Als Schriftsteller, Literaturwissenschaftler, -kritiker und Integrationsfigur
für die Autoren seines Landes hat Mohammed Barrada in Marokko und in
der arabischen Welt hohe Geltung. Seit 1979 veröffentlichte er zwei
Romane und einen Band mit Erzählungen. Sein Erzählen ist im westlichen
Sinn modern, seine Themen kommen aus der Gegenwart Marokkos - der Romanauszug
"Das flüchtige Licht" (1993) findet sich in der INTERLIT-Anthologie
"Andere Länder - andere Zeiten".
Barrada hat wichtige literaturtheoretische Schriften aus dem Französischen
ins Arabische übertragen (u.a. Roland Barthes). Er war einer der Gründer
des marokkanischen Schriftstellerverbands und von 1976-83 dessen gewählter
Präsident. In all seinen Büchern und Funktionen dominiert ein
Engagement: für das Recht auf eigene Sicht, für die Selbstbestimmung
der Individuen.
Lebenslauf
Mohammed Barrada *, geb. 1938 in Rabat/Marokko, aufgewachsen in Fes.
Studium der arabischen Literatur in Fes und 1955-60 in Kairo; bis 1964 bei
Radio Marokko, danach wissenschaftlicher Mitarbeiter, später Dozent
an der Universität in Rabat; 1970-73 Dissertations-Vorbereitungen in
Paris. 1976-83 Präsident des marokkanischen Schriftstellerverbands;
zahlreiche Beiträge für marokkanische und arabische Printmedien.
Lebt in Rabat, wo er arabische Literatur lehrt.
Veröffentlichungen
Seit 1979 ein Band mit Erzählungen, zwei Romane und diverse wissenschaftliche
Arbeiten. Übersetzungen (erster Roman) ins Englische, Französische,
Spanische und erstmals ins Deutsche für die INTERLIT-Anthologie "Andere
Länder - andere Zeiten" (Auszüge des zweiten Romans). Übersetzer
literaturtheoretischer Schriften (u.a. von Roland Barthes, Michail Bakhtine,
Abdelkabir Khatibi) aus dem Französischen ins Arabische.
Deutsch:
"Das flüchtige Licht" (Romanauszug, Original 1993), Übers.
Kristina Stock, in: "Andere Länder - andere Zeiten" (Anthologie),
Hg. Interlit e.V., Marino Verlag, München 1997.
"Dollars" (Erzählung), in: "Das Kamel auf der Palme.
Erzählungen aus Marokko", Hg. Peter M. Dienstbier und Mohamed
Ellorhaoui, Maro Verlag, Augsburg 1993.
Arabisch:
"ad-Dan' al-harib" (Roman), Editions Le Fennec, Casablanca
1993.
"Lu'bat al-nisyân" (Roman), Dâr al-amân,
Rabat 1987.
Französisch:
"Le jeu de l'oubli" (Roman - Original 1987), Actes Sud, Arles
1993.
Englisch:
"The Game of Forgetting" (Roman - Original 1987), Quartet,
London 1997.
* In englischen und französischen Ausgaben lautet die Umschrift
des arabischen Namens zumeist "Mohamed Berrada".
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