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- Osteuropa:Volkswagenstiftung fördert
FAU-Projekt
Die stalinistische Konstruktion des Juden:
Judenpolitik, Antisemitismus und Literatur in Rußland 1929-1953
- Literarische Judenbilder als ein gesellschaftliches
und kulturelles Phänomen der Stalinzeit zu erforschen, ist
ein Gemeinschaftsprojekt der Lehrstühle für Osteuropäische
Geschichte und Slavistik der Universität Erlangen-Nürnberg.
Als Teilprojekt des Sonderforschungsgebietes "Diktaturen
im Europa des 20. Jahrhunderts: Strukturen, Erfahrungen, Überwindung
und Vergleich" wird es von der Volkswagen-Stiftung gefördert.
An das Projekt knüpft thematisch eine Promotion an, die
von Lilia Antipow M.A. bearbeitet und von Professor Dr. Elisabeth
von Erdmann-Pandzic betreut wird.
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- Im zaristischen Rußland ein armer Schmied,
wurde Samuil Perlin in der UdSSR ein Kolchosbauer. Seitdem die
sowjetische Regierung die landwirtschaftliche Kolonisation unter
den Juden auf der Krim in Angriff genommen hat, baut er dort
unter der Leitung von russischen Kommunisten und mit Unterstützung
der russischen und ukrainischen Bauern das "sozialistische
jüdische Paradies". Die UdSSR ist bereits sein "sowjetisches
Vaterland" geworden, wo Perlin - unter dem Zaren rechtlos,
von sozialer Ungleichheit und militantem Antisemitismus geplagt
- in die Gemeinschaft der sowjetischen Völker aufgenommen
wurde und zusammen mit ihnen in die "lichte kommunistische
Zukunft" marschiert. Patriotismus und Ergebenheit gegenüber
der Sache der Revolution, Kollektivismus und kommunistisches
Pflichtbewußtsein zeichnen ihn ebenso aus wie persönliche
Askese und Bereitschaft zur Selbstaufopferung. Jüdische
Kultur, Religion und Sprache besitzen für ihn kaum noch
einen Wert; er spricht Russisch, und sein Alltag ist nicht mehr
vom jüdischen Ritus geprägt. Die Herauslösung
aus der Tradition und die neue Identität betont sein Äußeres:
Perlins reckenhafte Statur entspricht dem - aus Folklore und
Literatur bekannten - männlichen Schönheitsideal der
Russen.
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- Diese Figur stammt aus dem Produktions-
und Aufbauroman "Eti gospoda" von Matvej Rojzman. Er
ist 1930 mit finanzieller Förderung der Gesellschaft für
jüdische Landansiedlung (OZET) entstanden und wurde von
den offiziellen sowjetischen Stellen wohlwollend aufgenommen.
Was Rojzman mit einer literarischen Figur wie Perlin geschaffen
hatte, war eine Konstruktion: Als Personifikation des Guten,
wie es durch den sowjetischen Ethikkodex definiert war, als Projektion
des Judenbildes der Staats- und Parteiführung und Ziel ihrer
Nationalitätenpolitik verkörperte Perlin den "neuen
Juden". Diese literarische Figur war ein Identitätsangebot
an die Juden in der UdSSR und dazu bestimmt, sie eben zu diesen
"neuen sowjetischen Juden" zu erziehen. Zugleich versuchte
sie, den gängigen antisemitischen Judenbildern des "Kosmopoliten",
des "ausländischen Spions", des "Kapitalisten",
des "Zersetzers der russischen Gesellschaft" und des
"jüdischen Weltverschwörers" entgegenzutreten,
die Wahrnehmung des Juden durch die Nichtjuden und ihre Einstellung
zu ihm zu "reorganisieren". Darüber hinaus zeigte
Perlins Charakter jenes Grundmuster, nach dem alle positiven
jüdischen Figuren in der Literatur der Stalinzeit konstruiert
wurden.
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- Doch wie repräsentativ war dieses Grundmuster
für die "stalinistische Konstruktion des Juden"?
Lag es nicht quer zur historischen Situation jener Jahre? Denn
während im Roman der "Sieg des Sozialismus auf der
jüdischen Straße" gefeiert wurde, erlebte das
Land den Terror gegen jüdische Eliten, den Untergang der
traditionellen jüdischen Lebens- und Glaubensformen, entzog
sich die Führung einer kritischen Auseinandersetzung mit
dem Antisemitismus in der sowjetischen Gesellschaft. Wie ist
dann zu erklären, daß positiv besetzte jüdische
Figuren wie Samuil Perlin sogar in den späten 40er und beginnenden
50er Jahren die literarische Landschaft beherrschten, zu Zeiten
der Kampagnen gegen den "Kosmopolitismus", den "bürgerlichen
jüdischen Nationalismus" und die Kremlärzte, die
traditionelle antisemitische Judenbilder instrumentalisierten?
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- Wie lassen sich diese Widersprüche auflösen?
Welche politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen
und Mechanismen steuerten, wenn sie es denn taten, die literarische
Konstruktion des Juden in der stalinistischen Sowjetunion, in
der die Staats- und Parteiführung zu Beginn der 30er Jahre
ihren Führungsanspruch gegenüber den Schriftstellern
weitgehend durchgesetzt und die Literatur als ein Mittel zur
"Reorganisation der Köpfe" in ihren Dienst gestellt
hatte, versuchte, deren Inhalt und Form nach Maßgabe ihrer
politischen Ziele zu bestimmen? Wenn Stalin dabei den sowjetischen
Schriftsteller zum "Ingenieur der menschlichen Seele"
ernannte, bleibt die Frage nach dem Erfolg seiner Bemühungen.
Wie nachhaltig war die Wirkung seines "Judenbildes",
wenn in weiten Teilen der sowjetischen Gesellschaft während
der 30er bis 50er Jahre antisemitische Grundeinstellungen nicht
verschwanden? Wie wäre sonst zu verstehen, daß viele
Juden bereits in der Stalinzeit eine andere, nicht sowjetische
Identität und eine Option für Palästina als alte
und neue Heimstatt entwickelten?
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- Entstehung, Wandel und Wirkung im Kontext
der Stalinzeit
- Diese Fragen greift das Projekt "Die
stalinistische Konstruktion des Juden: Politik und Literatur
in Rußland 1929-1953" auf. Sein Anliegen ist, die
vielfältigen Ausprägungen dieser Konstruktion in Werken
jüdischer und nichtjüdischer sowjetischer Schriftsteller
zu erfassen und ihre Entstehung, Veränderung und Wirkung
im ideologischen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen
Kontext der Stalinzeit zu untersuchen. Dabei will man jene Verbindungen
offenlegen, die zwischen der Ideologie, der Nationalitäten-
und Judenpolitik, der Konstruktion des Juden in der sowjetischen
Literatur sowie den gesellschaftlichen Kollektiverfahrungen,
Einstellungen und Prägungen bestanden.
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- Das Projekt setzt sich zunächst mit
den Forderungen auseinander, die für die literarische Konstruktion
des Juden aus den Vorgaben der sowjetischen Nationalitätenpolitik
erwuchsen. Dabei ist vor allem die Veränderung dieser Forderungen
unter den sich wandelnden ideologischen und politischen Bedingungen
zu verfolgen, so beim ideologischen Wechsel vom proletarischen
Internationalismus zum sowjetischen bzw. russischen Patriotismus
um 1930 oder bei der Aufnahme der Kampagnen gegen den "Kosmopolitismus",
den "bürgerlichen Nationalismus" und die Kremlärzte
in den Jahren 1948-1953.
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- Ein Mittel, mit dem die sowjetische Staats-
und Parteiführung in der Lage war, auf die literarische
Konstruktion des Juden sowie ihre Distribution und Rezeption
in der Gesellschaft erheblichen Einfluß zu nehmen, war
die literarische Zensur. Vielschichtig und hierarchisch aufgebaut,
verfolgte sie eine Judenpolitik, deren Inhalte und Formen, Objekte
und Mechanismen einen weiteren Schwerpunkt der Untersuchung bilden.
Dabei werden die vielfältigen Interaktionen der Partei-,
Regierungs- und Zensurbehörden bei der literarischen Konstruktion
des Juden, die Reaktionen der Zensur auf die nationalitätenpolitischen
Vorgaben und die Freiräume zu beschreiben sein, die sie
für sich in Anspruch nahm.
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- Welchen Juden der sowjetische Schriftsteller
bald in einer engen und aufgezwungenen Kooperation mit der politischen
Führung und der Zensur, bald unabhängig von ihnen "konstruiert"
hat - dies soll die Analyse der literarischen Texte selbst ergeben.
Ausgehend von der Handlung, der Figurenkonstellation und -charakterisierung
sowie der Wertperspektive eines literarischen Werkes wird sie
versuchen, der Konstruktion des Juden als dessen Antwort auf
die Frage des zeitgenössischen Diskurses: "Wer ist
der Jude?" auf die Spur zu kommen. Anschließend wird
diese Konstruktion in Bezug zur Vorgaben der Zensur gesetzt und
danach gefragt, ob sie tatsächlich ihren Vorschriften und
den Erwartungen der Partei- und Staatsführung entsprach.
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- Allerdings bliebe eine Untersuchung über
die literarische Konstruktion des Juden unvollständig, hätte
man nicht die Rolle berücksichtigt, die der sowjetische
Leser dabei gespielt hat. Denn während die stalinistische
Staats- und Parteiführung in die literarische Produktion
"von oben" eingriffen, griff die sowjetische Gesellschaft
in sie gleichsam "von unten" ein. "Weltbild und
Geschmack" des zeitgenössischen Lesers, seine Ansprüche
und Erwartungen bildeten nicht nur aus der offiziellen literaturpolitischen
Sicht eine reale Größe in der literarischen Produktion.
Daher soll geklärt werden, welche Aspekte der literarischen
Konstruktion des Juden auf die Erwartungen des sowjetischen Lesers,
die Bedienung seiner Vorurteile zurückzuführen sind,
die sich in seinen an Institutionen der literarischen Produktion
gerichteten Stellungnahmen artikulierten.
- Abschließend stellt das Projekt die
Distribution der literarischen Konstruktion des Juden in der
sowjetischen Gesellschaft und ihre Rezeption durch verschiedene
Leserkreise zur Diskussion, um ihre Bedeutung für die gesellschaftlichen
Einstellungen und Verhaltensweisen zu bestimmen. Es ist ein Versuch
zur Wirkungsgeschichte dieser Konstruktion, womit sie in Beziehung
zur Mentalität und zur sozialen Praxis des sowjetischen
Bürgers gesetzt wird.
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- Eine solche Untersuchung gibt gleichzeitig
die Möglichkeit, die Mechanismen der antisemitischen Meinungsbildung
in der UdSSR der 30er bis 50er Jahre freizulegen, den Antisemitismus
als ein ideologisches, politisches, gesellschaftliches und kulturelles
Phänomen dieser Zeit in seinen Formen, Inhalten und Reichweite
zu beschreiben. Sie verspricht darüber hinaus Einblicke
in den sowjetischen Literaturbetrieb und die Mechanismen seiner
Lenkung, in die Literaturpolitik der Stalinzeit sowie in die
Mittel und die Möglichkeiten ihrer Durchsetzung, in die
Spielräume literarischen Schaffens und die Rolle des Lesers
in der literarischen Produktion sowie in die Bedeutung der Literatur
für das Bewußtsein der sowjetischen Gesellschaft und
ihre soziale Praxis. Hiermit will das Projekt auch in die Auseinandersetzung
um den Stalinismus "von oben" und "von unten"
eingreifen, politik-, sozial-, mentalitäts- und kulturgeschichtliche
Ansätze zu seiner Erklärung diskutieren und auf ihren
historischen Erkenntniswert hin prüfen.
- Lilia Antipow
· Kontakt:
- Prof. Dr. Helmut Altrichter, Lehrstuhl
für Osteuropäische Geschichte
Bismarckstraße 12, 91054 Erlangen, Tel.: 09131/85 -22363
- Prof. Dr. Elisabeth von Erdmann-Pandzic,
Professur für Slavistik
Bismarckstraße 1, 91054 Erlangen, Tel.: 09131/85 -22942
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- Mediendienst FORSCHUNG Nr. 581 vom 20.10.2000
Sachgebiet Öffentlichkeitsarbeit (Pressestelle)
pressestelle@zuv.uni-erlangen.de
Stand 20.10.2000