- Untersuchungen zur Erhöhung des Stellenwerts der
gütlichen Einigung in Bayern
Schlichten statt Richten
"Ich werde Sie verklagen!" Die Drohung ist schnell ausgesprochen, wenn
Bauherrn mit den Leistungen von Maurern, Malern oder Installateuren un-
zufrieden sind oder Nachbarn sich darüber streiten, ob ein Ast über die
Hecke ragen darf, die ihre Gärten trennt. Zwar ist die Ankündigung nicht
immer ernst gemeint, doch häufig sehen sich die Kontrahenten tatsächlich vor
Gericht wieder. Dabei gibt es einfachere Wege zur Einigung, ohne dass auf
sachkundige Hilfe verzichtet werden muss. In zwei Projekten will das
Bayerische Staatsministerium der Justiz herausfinden, was sich tun lässt, um
der außergerichtlichen Schlichtung im Freistaat mehr Akzeptanz und mehr
Gewicht zu verschaffen. Der wissenschaftliche Part liegt in bei- den Fällen
bei Prof. Dr. Reinhard Greger, der den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht,
Zivilprozessrecht und Freiwillige Gerichtsbarkeit der Universität
Erlangen-Nürnberg inne hat.
Zwei rechtlich abgesicherte Möglichkeiten gibt es in Bayern, Streitigkeiten
gütlich beizulegen: das obligatorische und das freiwillige
Schlichtungsverfahren. Wer vermögens- oder nachbarschaftsrechtliche
Ansprüche klären will oder eine Beleidigungsklage anstrebt, ist unter
Umständen dazu verpflichtet, zunächst eine einvernehmliche Lösung in
Betracht zu ziehen. Seit Mai 2000 schreibt das Bayerische Landesrecht einen
Schlichtungsversuch vor, wenn der Streitwert nicht mehr als 750 Euro
beträgt. Erst wenn der Versuch gescheitert ist, kann Klage vor einem
Zivilgericht erhoben werden. Das Bayerische Schlichtungsgesetz gilt zunächst
für eine Probezeit bis Ende 2005. Als Schlichter kommen Rechtsanwälte oder
Notare in Frage; wenn mehr als juristischer Sachverstand erforderlich ist,
bieten sich Schlichtungsstellen von Kammern, Innungen oder Berufsverbänden
an.
Stets können die Gegner sich jedoch aus eigenem Antrieb darauf verständigen,
eine Schlichtungsstelle aufzusuchen statt zu prozessieren. Unter dem Kürzel
"a.be.r" für "außergerichtliche Beilegung von Rechtsstreitigkeiten" wirbt
das Bayerischen Justizministerium seit kurzem intensiv für dieses schnellere
und weitaus weniger teure Vorgehen, dessen Ergebnisse im Idealfall alle
Beteiligten akzeptieren können. Der Landgerichtsbezirk Nürnberg-Fürth ist
für einen Modellversuch ausersehen worden, der am 14. Oktober 2002 auf einer
Pressekonferenz im Nürnberger Justizgebäude vorgestellt wurde.
Rechtsdienste für viele Zwecke
Am rechtlichen Instrumentarium oder der Infrastruktur fehlt es nicht. Der
Großraum Nürnberg wurde unter anderem als Modellregion gewählt, weil hier
ein eng geknüpftes Netz von Mediations- und Schlichtungseinrichtungen zu
finden ist. Trotzdem werden Streitigkeiten viel seltener außergerichtlich
geschlichtet, als es wünschenswert wäre. Aufgabe der Begleitforschung ist es
festzustellen, was den Schlichtungsverfahren Auftrieb verleihen könnte. Es
wird überprüft, ob bestehende Maßnahmen bereits greifen, und vorgeschlagen,
was zu verändern und verbessern wäre. .
Statistische Daten sowie eigene Recherchen und Erhebungen des Erlanger
Lehrstuhls sollen einen Überblick geben, wie sich die Auslastung der
Schlichtungsstellen und der Zivilgerichte in Bayern entwickelt hat, seit es
die Pflicht zum Versuch einer gütlichen Einigung gibt. Aus Einzelbefragungen
von Schlichtern, Richtern, Anwälten und Streitparteien werden konkrete
Erkenntnisse gewonnen, inwiefern sich obligatorische Schlichtungsverfahren
bewährt haben und ob diese Alternative die Kontrahenten und die beteiligten
Juristen zu über- zeugen vermochte.
Während hier die Auswirkungen des "von oben" verordneten Treffens beim
Vermittler auf dem Prüfstand sind, appelliert das Pilotprojekt a.be.r. an
Einsicht und Verständigungsbereitschaft. Den Rechtssuchenden,
Rechtsberatenden und Rechtsprechenden soll das außergerichtliche Vorgehen
schmackhaft gemacht werden. Justizbehörden und Rechtsanwaltskammer von
Nürnberg sowie die Schlichter und Mediatoren in der Region haben sich zu
diesem Zweck zusammengetan. Viel Gewicht wird auf Information und
Bewusstseinsveränderung gelegt. Veranstaltungen und Broschüren,
Fachzeitschriften und Internet sollen da- bei helfen. Gezielt sollen
Zivilrichter veranlasst werden zu erwägen, ob bereits laufende Prozesse
nicht an eine Schiedsstelle verwiesen werden sollten.
Die Erfahrungen mit dieser Kampagne werden am Lehrstuhl für Bürgerliches
Recht, Zivilprozessrecht und Freiwillige Gerichtsbarkeit gesammelt und aus-
gewertet. Anwälte und Richter werden um regelmäßige Berichte gebeten; die
Schlichtungsstellen dokumentieren, wie sich ihre Arbeit entwickelt.
Professor Reinhard Greger berät zudem bei der Gestaltung von
Fortbildungsangeboten, Workshops und schriftlichen Materialien. Eine
wissenschaftliche Vortragsreihe, die der Lehrstuhl organisiert, greift
interdisziplinäre Aspekte, Erkenntnisse aus der Wirtschaft und die
Sichtweisen anderer Rechtsordnungen auf.
Neue Streitkultur weckt Begeisterung
Aus England beispielsweise, führt Prof. Greger an, seien seit der jüngsten
Prozessrechtsreform "geradezu begeisterte Berichte von einer völlig neuen
Streit- kultur' zu hören. Ob auch die Bayern bereit sind, ihre Streitkultur
zu ändern, wird sich erweisen, wenn Mitte 2004 die Untersuchungsergebnisse
vorliegen. Wer an dauerhaft verfeindete Verwandte oder Nachbarn, an
Gutachten und Gegengutachten oder an Prozesse denkt, die sich jahrelang
durch alle Gerichts- instanzen ziehen, kann sich vielleicht dem Urteil
anschließen, das für Rechts- und Sozialwissenschaftler jetzt schon gilt: In
bestimmten Fällen ist die Schlich- tung dem Zivilprozess zweifellos
überlegen.
Weitere Informationen
Prof. Dr. Reinhard Greger
Telefon 09131/85 -22252
Reinhard.Greger@jura.uni-erlangen.de
Mediendienst FORSCHUNG Nr. 639 vom 16.10.2002
Sachgebiet Öffentlichkeitsarbeit (Pressestelle)
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