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- Kooperationsprojekt zur Leistungs- und
Persönlichkeitsentwicklung von Erstklässlern
Große Sonnen oder kleine Wolken im Klassenzimmer
Zuversichtlich und stolz gehen die meisten Kinder am ersten Schultag
in die Schule. Wenig später sieht für einige Erstklässler
die Welt schon wesentlich komplizierter aus. Sie erkennen, was
sie im Vergleich zu ihren Mitschülern können, und müssen
vielleicht erste Misserfolge verarbeiten. Die Lehrerin ist zu
einer neuen wichtigen Bezugsperson geworden, und der Platz in
der Klassengemeinschaft muss gefunden werden. Was das Selbstbild
von Kindern im beginnenden Schulunterricht am stärksten
formt, soll am Institut für Grundschulforschung nachvollzogen
werden. Die Aufmerksamkeit gilt zwei vermutlich ergiebigen Einflussquellen:
dem Klassenklima und der Lehrkraft.
- "Das Selbstwertgefühl der Kinder
sinkt nach dem Eintritt in die Schule", konstatiert Dr.
Gisela Kammermeyer, und ihre Kollegin Dr. Sabine Martschinke
ergänzt: "Schon nach sechs Wochen lässt sich das
feststellen." Die Jungen und Mädchen haben es erstmals
mit festgelegten Lehrzielen zu tun und sind den Vergleich mit
anderen noch nicht gewohnt. Sie kommen, wie es im Sprachgebrauch
der Pädagogik heißt, "mit einem stark überhöhten
Selbstkonzept" in die Schule.
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- Diese allzu vertrauensvollen Vorstellungen
in realistischere Bahnen zu lenken, ohne das Kind zu verunsichern,
ist eine der wichtigsten erzieherischen Aufgaben im Anfangsunterricht.
Denn die Erkenntnis: "Das kann ich nicht" braucht keine
grundsätzlichen Selbstzweifel nach sich zu ziehen, wenn
sie von der Überzeugung begleitet wird: "Das kann ich
aber noch lernen." In dieser kritischen Phase der Persönlichkeitsentwicklung
spielt vieles dabei mit, ob es gelingt, den Kindern auf ihren
Weg durchs Leben ein starkes, stabiles Selbstwertgefühl
mitzugeben. Was im Kopf der Lehrkraft abläuft, bleibt nicht
ohne Folgen für die Kinder, so wie die Unterrichtsgestaltung
und konkrete Interaktionen zwischen Lehrer und Schulkind dessen
Leistungs- und Selbstkonzept beeinflussen. Die unmittelbare Lernumwelt,
ein von der Klasse gemeinsam aufgebautes und geteiltes, wenn
auch individuell unterschiedlich erlebtes Klima, ist bedeutsam
für die Identität der Schüler, für Freude
am Lernen und Angst vor Leistungsanforderungen.
- In mehreren Studien sind Einflüsse des
Klassenklimas und der Lehrkräfte auf Leistung und Persönlichkeitsentwicklung
von Schülern belegt, doch mit dem Schulbeginn hat sich bisher
noch keine derartige Untersuchung befasst. Gerade hier rechnen
Dr. Martschinke und Dr. Kammermeyer mit deutlichen Einflüssen
auf die Identitätsentwicklung. Um möglichst vollständig
zu erfassen, was auf die jüngsten Schülerinnen und
Schüler einwirkt, entschlossen sich die beiden Wissenschaftlerinnen
vom Nürnberger Institut für Grundschulforschung, die
Perspektiven der Kinder und der Lehrerinnen gleichzeitig und
gleichwertig einzubeziehen.
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- Erreicht wird dies durch zwei DFG-geförderte
Projekte, die eigenständig ablaufen, aber eng miteinander
verschränkt sind. Die Forschungen zur "Bedeutung des
Lehrers für die Leistungs- und Selbstkonzeptentwicklung
im Anfangsunterricht" und zur "Bedeutung des Klassenklimas
für die Identitätsentwicklung im Grundschulalter"
greifen auf Daten zurück, die zueinander in Beziehung gesetzt
werden können. 32 Klassen aus dem mittelfränkischen
Raum mit insgesamt über 400 Erstklässlern wurden einbezogen.
- Die Lehrerinnen dieser Klassen waren bereit,
in Interviews zu ihren Zielen, Erwartungen und anderen handlungsleitenden
Orientierungen, die als "Subjektive Theorien" zusammengefasst
werden, Auskunft zu geben. Außerdem führten sie Buch
über die Unterrichtsgestaltung an 30 Tagen im vergangenen
Schuljahr und beantworteten Fragen zum Umgang mit einzelnen "Zielkindern".
Dieselben Kinder, jeweils acht pro Klasse, nehmen an der Studie
zum Klassenklima teil, die wie die Lehrerstudie im September
2000 begann, aber im Gegensatz dazu im zweiten Schuljahr, eventuell
sogar länger fortgesetzt wird. In zehn der 32 Klassen werden
nicht nur ausgewählte Schüler befragt, sondern alle.
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- Die zwei kooperierenden Studien sind als
Längsschnittstudien konzipiert. Einen längeren Zeitraum
zu wählen, bietet sich an, wenn Entwicklungen verfogt werden
sollen. Die Datensammlung ist so angelegt, dass Rückschlüsse
auf Einzelpersonen wie Klassengesamtheiten möglich sind.
Dass kein fremder Beobachter im Schulzimmer sitzt, sondern Schüler
und Lehrer ihre Wahrnehmungen schildern, passt zu den Fragen,
die die Projektleiterinnen interessieren. "Erfahrungsgemäß
antworten die Lehrkräfte sehr offen und selbstkritisch",
fügt Gisela Kammermeyer hinzu.
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- Auch die Kinder führen Tagebuch, doch
in einer ihnen gemäßen Form: sie entscheiden sich
zwischen großen und kleinen Sonnen oder Wolken, um das
Klassenklima zu kennzeichnen. Wenn sie nach dem schulischen
Erfolg gefragt werden, veranschaulicht ein Gesicht die Antwort,
dessen Ausdruck von "missmutig" bis "begeistert"
verstellbar ist. Ein Spiel mit Handpuppen erleichtert die Selbsteinschätzung,
und die Voraussetzungen zum Erlernen der Schriftsprache zeigen
sich beim "Rundgang durch Hörhausen". Da die Erstklässler
anfangs weder lesen noch schreiben können, waren solche
neuen Befragungsmethoden nötig. Die Kompetenz und die Ernsthaftigkeit
der jungen Auskunftspersonen wird deshalb nicht geringer geschätzt.
"Weißt du was", zitiert Sabine Martschinke aus
einem Interview mit einem Jungen, "deine Fragen sind ganz
schön schwer - aber sie gefallen mir!"
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- Mit den Auswertungen werden die Projektleiterinnen
und ihre Mitarbeiterinnen Angela Frank und Christine Mahrhofer
noch einige Zeit beschäftigt sein. Bereits jetzt sind die
weit auseinanderklaffenden Eingangsniveaus der Klassen aufgefallen.
So gab es in jeder der zehn voll erfassten Klassen sowohl Kinder,
die ohne jegliche Buchstabenkenntnis in die Schule kamen, als
auch solche, die bereits alle Buchstaben kannten und jeweils
den richtigen Laut zuordnen konnten. In einer bestimmten Klasse
hatten zum Schulanfang nur zwei Kinder ein eher negatives Bild
von den eigenen Leistungen im Schriftspracherwerb, während
in einer anderen Klasse 16 Kinder und damit zwei Drittel an ihren
Fähigkeiten zweifelten. Wie sich das Unterrichtsklima bei
so unterschiedlichen Ausgangsbedingungen entwickelt und wie die
Lehrerinnen darauf reagieren, ist einer der Schwerpunkte der
derzeitigen Auswertungsarbeiten.
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- Weitere Informationen
- Dr. Sabine Martschinke
Tel.: 0911/5302 -530
- semartsc@ewf.uni-erlangen.de
Dr. Gisela Kammermeyer
Tel.: 0911/5302 -530
- gakammer@ewf.uni-erlangen.de
Mediendienst FORSCHUNG Nr. 614 vom 14.12.2001
Sachgebiet Öffentlichkeitsarbeit (Pressestelle)
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