Vier Jahrhunderte ungebrochene Popularität


Erlanger Forscher untersuchen die Geschichte des Melusine-Romans

Longseller nennen die Buchhändler einen Titel, der sich über lange Zeit beim Lesepublikum großer Beliebtheit erfreut. Ein ganz besonderer Longseller ist der spätmittelalterliche Prosaroman „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen, der über fast vier Jahrhunderte hinweg ein populärer Lesestoff war. Buchwissenschaftler, Kunst- und Sprachhistoriker der Universität Erlangen-Nürnberg wollen jetzt gemeinsam anhand aller erhaltenen Ausgaben zwischen 1473 und etwa 1820 untersuchen, wie sich Buchproduktion, Publikumsgeschmack und Leseverhalten im Laufe der Jahrhunderte verändert haben. Das interdisziplinäre Forschungsprojekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Projektleiterinnen sind Prof. Dr. Ursula Rautenberg, Buchwissenschaft, Prof. Dr. Mechthild Habermann, Sprachwissenschaft, und Prof. Dr. Heidrun Stein-Kecks, Kunstgeschichte.

Raymond überrascht Melusine beim
Baden und entdeckt ihren Schlangenleib.
Illustration aus der Erstausgabe der
Melusine: Bernhard Richel, um 1473/74, Basel.

Der Roman handelt von der Verbindung der Fee Melusine mit dem Adeligen Raymond. Ihre Ehe steht unter einem glücklichen Stern, solange Raymond sein Versprechen einhält, nicht nachzuforschen, wer seine Frau in Wirklichkeit ist. Melusines wahre Natur wird immer samstags sichtbar, wenn sie sich in ein Zwitterwesen halb Frau und halb Schlange verwandelt. „Solche Geschichten haben die Menschen durch die Jahrhunderte hinweg fasziniert: Von seinem ersten Erscheinen 1473/74 bis ins 19. Jahrhundert war der Roman ein beliebter Lesestoff. Genau dieser Umstand macht die ,Melusine‘ für unsere Forschungen so interessant“, erklärt Dr. Hans-Jörg Künast, der das Erlanger Forschungsprojekt koordiniert. „Die meisten spätmittelalterlichen Romane wurden mit Beginn der Reformation um 1520 nicht mehr gedruckt. Der Melusine-Roman wurde jedoch seit 1538 wieder häufig publiziert. Auch die Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konnte der Popularität des Melusine-Stoffes jedoch nichts anhaben.“

Im Mittelpunkt der Erlanger Forschungen steht die Frage, wie die „Melusine“ als gedrucktes Buch von den Druckern und Buchhändlern geplant, verlegt und vertrieben und von den Käufern bzw. Lesern wahrgenommen und rezipiert wurde. Dazu wollen die Wissenschaftler die überlieferten Drucke vom Basler Erstdruck aus den Jahren 1473/74 bis zu den Volksbuch-Ausgaben in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts genau erfassen und analysieren. Sprachwissenschaftler werden zum Beispiel stilistische Merkmale der Texte und den Sprachwandel vom 15. bis zum 19. Jahrhundert untersuchen. Kunsthistoriker nehmen die Bilder und Bildzyklen im Buch und auf dem Titelblatt genauer unter die Lupe, anderem deren Bedeutungen und die Beziehungen von Text und Bild zu erforschen. Buchwissenschaftler betrachten unter anderem Ausstattung und Typographie der Bücher, aber auch Leseweisen sowie die Beziehung von Publikum und Markt genauer. Auf diese Weise wollen die Erlanger Experten die Wechselwirkungen zwischen Buchgestalt, Textform, Lesen und Leser über vier Jahrhunderte hinweg analysieren.

Weitere Informationen für die Medien
Dr. Hans-Jörg Künast
Professur für Buchwissenschaft
Tel.: 09131/85-22917
hans-joerg.kuenast@buchwiss.uni-erlangen.de

uni | mediendienst | forschung Nr. 06/2008 vom 12.02.2008

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